Oberhausen. Gewalt in Schulen: Polizei-Anzeigen gegen Schüler nehmen zu. Ist die Pandemie daran schuld? Ein Interview mit Bildungsexpertin Meike Wittfeld.

Der tätliche Angriff eines Schülers der Gesamtschule Osterfeld auf seine Lehrerin ist leider kein Einzelfall, wie die Daten der Polizei in Oberhausen zeigen (wir berichteten). Doch wie kommt es dazu, dass Situationen im Klassenzimmer oder auf dem Schulhof eskalieren?

Sozialarbeiterin und Bildungsforscherin Meike Wittfeld von der Universität Duisburg-Essen gibt im Interview mit unserer Redaktion viele Denkanstöße. Warum die klassische Vorstellung von Respekt längst überholt ist, Gymnasiasten laut Statistiken braver zu sein scheinen als andere Schüler und die Corona-Pandemie nicht als Erklärung für alle Misslagen herhalten kann.

Frau Wittfeld, was bringt Schülerinnen und Schüler dazu, gewalttätig zu werden?

Es gibt viele Anlässe, die bei Kindern und Jugendlichen dazu führen können, das Machtverhältnis, in welchem sie zu ihren Lehrern stehen, mit Gewalt zu durchbrechen. Dies können psychische Probleme sein oder Erkrankungen, die mit einer verminderten Impulskontrolle einhergehen. Vielleicht wird mit dem Akt der Gewalt auch eine eigene Gewalterfahrung bearbeitet. Es kann schulinterne Faktoren geben: Wie viel Anerkennung bekommen die Kinder? Mit wie viel Respekt wird ihnen begegnet? Wie wertschätzend ist das Gebäude gestaltet? Werden Grenzen gewahrt? Darf man Fehler machen? Keiner von diesen Punkten alleine führt zu Gewalt. Es ist immer eine komplexe Gemengelage. Bisher war oft von Gewalt der Schüler untereinander die Rede: Prügeleien, Mobbing und immer stärker die Cyber-Varianten davon. Inzwischen scheint es selbst vor Lehrkräften kein Halten zu geben.

Hintergründe zum Thema

Es ist interessant, dass Sie hervorheben, dass „sogar“ Lehrer betroffen sind. Ist die Gewalt von Kindern gegen Erwachsene denn besonders schlimm?

Das Besondere ist hier doch, dass Kinder die Autorität von Erwachsenen infrage stellen. Es gibt eine lange Tradition von Erniedrigung und Züchtigung gegen Kinder und Jugendliche. Das Klima in der Gesellschaft hin zur gewaltfreien Erziehung hat sich erst in den vergangenen Jahren verändert. Es ist eine Errungenschaft, dass Kinder keine Gewalt mehr erdulden müssen. Wenn man Macht als Waage betrachtet, dann erhalten Kinder mehr Macht, wenn die Machtbalance verschoben wird.

Das würde die Lehrerin, die vor der gesamten Klasse körperlich angegangen und erniedrigt wurde, nicht unbedingt so positiv formulieren.

Das stimmt, das ist missverständlich. Dass Kinder weniger Gewalt ausgesetzt sind, bedeutet natürlich nicht, dass ich Gewalt gegen Erwachsene gutheiße. Gewalt gegen Einzelne ist immer unzulässig. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch noch, dass Kinder, die weniger gewaltvoll aufwachsen, auch selbst weniger Gewalt einsetzen, weil sie andere Strategien erlernt haben.

Was ist mit dem immer wieder aufkommenden Begriff „Respekt“?

Oft ist mit Respekt gegenüber Lehrern und Lehrerinnen Gehorsam gemeint. Dieser ist über lange Zeit mit dem Rohrstock erzwungen worden. Es ist gut, dass die Beziehung zwischen Kindern und Lehrern heute nicht mehr auf Angst beruht. Dennoch braucht es Respekt, aber mehr im Sinne von Anerkennung. Kinder müssen lernen, die Bedürfnisse anderer zu sehen und zu achten. Es braucht ein Schulklima, das diese Art von Respekt hervorbringt. Das ist schwierig. Man braucht Räume, die auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen und die nötige Professionalität, um zu berücksichtigen, welche Päckchen die Kinder mitbringen. Das können gewaltvolle Erlebnisse sein oder ein sozialer Ausschluss durch Armut. Es bräuchte Zeit für Kooperationen zwischen Lehrern, Psychologen und Sozialpädagogen. Man bräuchte Flexibilität, aber das Schulsystem ist sehr starr.

Macht es denn Sinn, einen Schüler wie in dem Oberhausener Fall als Strafe an eine andere Schule zu versetzen?

Sozialarbeiterin und Bildungsforscherin Meike Wittfeld von der Universität Duisburg-Essen
Sozialarbeiterin und Bildungsforscherin Meike Wittfeld von der Universität Duisburg-Essen © Unbekannt | Wittfeld

Manchmal kann ein Neustart guttun, auch dem Schüler. Die Frage ist nur, warum es hier eine Förderschule sein musste. Im Sinne des Inklusionsgedankens finde ich es problematisch, dass ein Schüler separiert werden muss, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gerade Gesamtschulen haben doch den Anspruch, integrativ zu sein, also alle einzuschließen. Für die pädagogische Beziehung mag der Schulverweis eine Bankrotterklärung sein, aber professionell betrachtet war es vielleicht die richtige Lösung. Es ist wichtig und richtig, sich um Kinder zu bemühen und sie nicht aufzugeben, aber manchmal ist ein Schulwechsel sinnvoll, um dem Schüler gerecht zu werden.

Gesamtschulen stehen immer im Verdacht, ein besonders „schwieriges“ Klientel zu haben. Stimmt das?

Statistisch gesehen kommt an Gymnasien die geringste physische Gewalt vor. Als Gründe kommen unterschiedliche Dinge zusammen. Das deutsche Schulsystem selektiert stark und verstärkt soziale Ungleichheit. Es hat Einfluss, wo Kinder und Jugendliche wohnen, welche Schulform sie besuchen, wie viele Ressourcen ihnen zur Verfügung gestellt werden und wie viel Unterstützung sie von zu Hause bekommen.

Häufig wird das Argument genannt, dass es größere Probleme an Schulen mit einem hohen Migrationsanteil gibt.

Den Begriff Migrant als Kategorie zu verwenden, finde ich problematisch. Das sagt zunächst einmal gar nichts aus. Die Frage sollte lauten: Welche Kinder haben aus welchen Gründen womit Probleme? Es ist nicht verwunderlich, dass Kinder, die eine Flucht hinter sich haben oder einen Krieg erlebt haben, sich anders verhalten als Kinder, die in einem Reihenmittelhaus umsorgt worden sind. Oder jemand, der aus einer Kultur kommt, in der Schläge als erzieherisches Mittel akzeptiert sind. Es gibt auch Verständigungsprobleme, wenn Lehrer mit dem Habitus einer weißen Mittelschicht auf Kinder treffen, die ihre Codes nicht lesen können. Hinzu kommt, dass Kinder mit einer Migrationsgeschichte immer wieder Abwertungen erleben dem gegenüber, was sie mitbringen.

Wie sollten Schulen damit umgehen?

Sie sollten bei solchen Kindern mehr auf die Stärken gucken. Auf die Mehrsprachigkeit, den erweiterten Horizont.

Wie könnte Corona das Verhalten der Schüler beeinflusst haben?

Es gibt Studien dazu, wie sich die Isolation auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt hat. Es hat sich gezeigt, dass die Schulschließungen soziale Ungleichheiten verstärkt haben, aufgrund der Wohnsituation und der Ressourcen. Kinder haben vermehrt soziale Ängste entwickelt. Auch sind bestimmte Formen nicht mehr eingeübt, wie das Verhalten im Unterricht oder auf dem Schulhof. Aber dass es Effekte von Corona auf die Aggression gibt, ist mir nicht bekannt. Die Belastung ist insgesamt stärker geworden und manchmal äußert sich dies auch in Aggression.