Oberhausen. Mehr als jeder dritte Normalgewichtige nahm während der Corona-Zeit deutlich zu. Mediziner sprechen bereits von einer Adipositas-Pandemie.
Mit diesem Ausmaß hätten selbst Experten nicht gerechnet: 40 Prozent aller, die vor Corona noch ein normales Gewicht hatten, rutschten während der Pandemie ins Übergewicht. Noch schlimmer traf es die eh schon Schwergewichtigen, von denen sogar mehr als jeder Zweite weiter rasant zulegte, oft um mehr als sieben Kilogramm. „Corona fachte eine regelrechte Adipositas-Pandemie an“, bringt Prof. Till Hasenberg, Leiter des Adipositas-Zentrums West an der Helios-Klinik St. Elisabeth, die Lage auf den Punkt. Rund 250 Patientinnen und Patienten mussten 2021 allein im Helios-Krankenhaus Oberhausen wegen ihres krankhaften Übergewichts operiert werden. Insgesamt suchten dort mehr als 500 Betroffene Rat – und damit so viele wie nie zuvor.
Zur Operation zugelassen wird nur, wer ein genau festgelegtes Programm absolviert. Ernährungscoaching, Bewegungs- und Psychotherapie gehören unbedingt dazu. „Unser schwerster Patient im Jahr 2021 war ein 30-Jähriger mit einem Body-Mass-Index von 85, der 307 Kilogramm auf die Waage brachte“, sagt Hasenberg. Bei einem solch hohen Gewicht besteht Lebensgefahr. Der Durchschnittspatient im Adipositas-Zentrum kommt dagegen mit etwa 140 Kilogramm auf einen BMI von 49. Hinter allen Betroffenen, die sogar von Borkum oder aus Hannover anreisen, liegt ein jahrelanger Leidensweg, der durch die Corona-Pandemie unbekannte Ausmaße erlangt hat.
Kurzarbeit, Jobverlust oder Homeoffice und die gleichzeitige Betreuung der Kinder – all dies seien Belastungsproben, „die man unmittelbar messen kann“, stellten die Experten des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin (EKFZ) an der Technischen Universität München in ihrer Studie aus dem April 2021 fest. Dazu kommt: Sportvereine, Fitness-Center waren in den letzten zwei Jahren lange geschlossen, der Weg zur Arbeit entfiel. „Als oft einziges Freizeitvergnügen blieb der Fernsehabend auf der Couch – und das Essen“, führt Hasenberg aus. Doch was die einen trotzdem locker wegsteckten, machte den anderen rasch erhebliche Probleme.
Gerne belächelt, dennoch wahr: Die Gene spielen eine große Rolle
„Denn was in unserer Gesellschaft noch immer gerne unter den Tisch fällt, ist, dass unsere Gene bei der Entwicklung von Übergewicht eine bedeutende Rolle spielen“, sagt Hasenberg. Wer durch seine Eltern die Veranlagung in die Wiege gelegt bekommen hat, setzt schnell Polster an. „Wir unterscheiden uns da gar nicht so sehr vom Hamster“, meint der Mediziner. Der Verstand lebe zwar im Hier und Jetzt. „Doch unsere Körperzellen sind in der Zeit der Neandertaler steckengeblieben – sie sind darauf programmiert, Reserven zu schaffen und möglichst zu erhalten. Und das gelingt den einen eben besser als den anderen.“ Doch was sich in der Vergangenheit als überlebenswichtiger Trumpf erwies, kann in Zeiten von Nahrungsmittel-Überfluss und Bewegungsmangel zum Desaster werden. Belegt wurde dieser Zusammenhang unter anderem von Forschern der Universität Marburg, die eine Studie mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums durchführten.
„Wer dann einmal im Kreislauf aus Zunahme und Diät gelandet ist, kommt da alleine nicht mehr heraus“, sagt Hasenberg. Erst recht nicht, wenn Verhaltensmuster wie Stress-Essen oder Essen aus Langeweile diesen Kreislauf zusätzlich anfeuern. Für den Oberhausener Chefarzt der Allgemeinchirurgie steht deshalb längst fest: „Patientinnen und Patienten mit einem BMI von 50 haben keine Chance mehr, das Ruder herumzureißen, auch nicht durch unser Programm.“ Dennoch müssten auch sie da durch. Warum? „Es geht um die Zeit nach der Operation, sie müssen neue Verhaltensmuster erlernen, um mit Stress und Enttäuschungen konstruktiv umgehen zu können.“
Viele schlechte Erfahrungen im Gesundheitssystem gemacht
Adipositas ist eine Krankheit, sagt der Mediziner, der soeben auch auf der „Stern“-Liste „Gute Ärzte für mich“ als Chirurg ausgezeichnet wurde. „Niemand hat sich dazu entschlossen, derartig stark übergewichtig zu werden.“ Dennoch hätten Adipositas-Patienten im Gesundheitssystem oft viele schlechte Erfahrungen hinter sich bringen müssen. Lange hätten sich Krankenkassen quergestellt, notwendige Operationen und Behandlungen zu bezahlen.
Jeder vierte Erwachsene stark übergewichtig
Die Deutsche Adipositas Gesellschaft gab bereits für das Jahr 2017 und damit für die Vor-Corona-Zeit an: In Deutschland sind rund zwei Drittel (67 Prozent) der Männer und die Hälfte (53 Prozent) der Frauen übergewichtig (BMI ≥ 25 kg/m2). Ein Viertel der Erwachsenen sind stark übergewichtig (adipös; BMI ≥30 kg/m2), das sind 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen.Am Adipositas Zentrum West in Oberhausen (Josefstraße 3, Kontakt: Tel. 0208-8508-7002, mo. bis fr. von 8 bis 12 Uhr, mi. keine Telefonsprechzeit, Mail: OB-AdipositasZentrumWest-Termine@helios-gesundheit.de) werden nur Erwachsene behandelt. Ein ambulantes Angebot für Kinder und Jugendliche gibt es unter anderem am LVR-Klinikum in Essen (Wickenburgstr. 21, Tel. 0201-8707-450, Mail: amb-kjp.essen@lvr.de).
„Doch mittlerweile ist angekommen, dass eine Behandlung in einem spezialisierten Zentrum hilft und sich positiv auf unzählige Begleiterkrankungen auswirkt.“ Das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall reduziere sich zum Beispiel um 82 Prozent, in fast 90 Prozent der Fälle verschwinde eine Fettleber komplett wieder und 83 Prozent der Diabetiker müssten deutlich weniger Insulin spritzen.
In vielen Fällen gelinge eine dauerhafte Gewichtsreduktion allein mit Hilfe des Programms am Zentrum. Manchmal könne aber nur noch ein Magenbypass oder ein Schlauchmagen zurück in ein normales Leben verhelfen. „Die Kostenübernahme der Kassen ist allen inzwischen in der Regel sicher, wenn sie sich zuvor konsequent an unser Programm halten“, betont Hasenberg. Anders sehe das aber noch immer bei der oft lebenslangen Nachsorge aus. „Die wird leider von den Krankenkassen noch immer nicht so unterstützt, wie wir uns das wünschen.“