Oberhausen. Die Schließung des Niederrhein-Kollegs in Oberhausen schlägt hohe Wellen. Für die Studierenden ist der Zweite Bildungsweg eine besondere Chance.
Kurz vor Weihnachten erreichte die Studierenden des Niederrhein-Kollegs in Oberhausen die Schreckensnachricht: Zum 31. Juli 2023 wird die Institution geschlossen, Neuanmeldungen sind nicht mehr möglich. Das hat die Bezirksregierung in Düsseldorf im November entschieden. „Ich bin enttäuscht und auch etwas wütend“, sagt Joanna Vetter. „Und dabei habe ich noch großes Glück gehabt.“
Die 34-Jährige studiert am Niederrhein-Kolleg und will ihr Abitur ablegen. Im Herbst 2020 ist sie gestartet, lernt derzeit im dritten Semester. „Rein rechnerisch kann ich meinen Abschluss also noch machen. Aber auch nur, wenn nichts mehr schiefgeht.“ Sie wäre damit Teil der letzten Gruppe, die am Kolleg noch regulär das Abitur abschließen kann. Doch diese Aussicht baut Druck auf. Die Mutter zweier Kinder sorgt sich: „Wenn meine Kinder nun krank werden und ich aus irgendeinem Grund länger ausfalle oder ein Semester wiederholen müsste, schaffe ich den Abschluss nicht mehr.“
Schließung ist für viele Studierende am Niederrhein-Kolleg ein weiterer Rückschlag im Leben
Auch viele andere Schüler, die Joanna Vetter mittlerweile als Freunde ansieht, haben mit der Entscheidung der Landesregierung zu kämpfen. Erfahren haben sie davon entweder durch eine Mail der Schulleitung oder weil sie persönlich von der Schulleitung und dem Ministerium in einer Informationsveranstaltung unterrichtet wurden. „Ich habe Freunde, die im ersten oder zweiten Semester studieren. Denen geht es gerade ganz unterschiedlich – einige sind traurig oder wütend, andere sind wie taub. Wieder einmal klappt etwas in ihrem Leben nicht.“
Da es ans Niederrhein-Kolleg Menschen verschlägt, die ihren Abschluss im Rahmen des Zweiten Bildungsweges machen, haben diese unterschiedlichste Biografien – oft durchzogen von Rückschlägen. Die Schließung der Institution wäre nun ein weiterer. „Ich glaube, einige werden nicht wieder neu an einem anderen Kolleg anfangen. Und das macht mich richtig traurig.“
Erst nach vielen Jahren in Deutschland begann Auswanderin mit ihrem Abitur
Auch für Joanna Vetter ist das Abitur die Eintrittskarte an eine deutsche Universität. Bereits 2009 wanderte sie aus Amerika ein – zunächst als Au-pair. In Deutschland lernte sie ihren Mann kennen und entschied sich für ein Leben hier. Weil ihr amerikanischer Abschluss in Deutschland nicht vollständig anerkannt wird, entschied sie sich für die Ausbildung am Niederrhein-Kolleg. Später möchte sie BWL studieren. Elf Jahre, nachdem sie nach Deutschland kam, startete sie mit dem Abitur. „In meinen ersten Jahren hier war mein Deutsch einfach nicht gut genug.“ Als ihre Kinder, sieben und neun Jahre alt, in die Schule gingen, traute sie sich endlich. „Ich habe das Niederrhein-Kolleg zudem erst spät durch einen Flyer gefunden“, fügt sie hinzu. „Bei meiner Suche im Internet ist das Kolleg gar nicht aufgetaucht.“
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Als Frau mit Einwanderungsgeschichte glaubt sie besonders stark an die „zweite Chance“ an Weiterbildungskollegs. „Viele Menschen, die 2015 nach Deutschland kamen, trauen sich vielleicht noch gar nicht, ihren Abschluss nachzuholen, weil ihr Deutsch nicht gut genug ist. Ich habe schließlich auch ein paar Jahre gebraucht. Ich bin fest davon überzeugt, dass Institutionen wie das Niederrhein-Kolleg wieder mehr Nachfrage bekommen werden.“
Andere Kollegs ohne Wohnheim sind für einige finanziell nicht zu stemmen
Sie selbst würde nicht an einem anderen Kolleg studieren. „Ich wohne in Mülheim-Styrum, also gleich um die Ecke.“ Da sie ihre Kinder pünktlich nach Schulschluss betreuen muss, ist die Nähe zum Kolleg ohne Alternative. Aber auch andere Studierende wären mit einem Wechsel vor neue Herausforderungen gestellt: „Einige können sich die Bildung nur leisten, weil sie im Wohnheim auf dem Schulgelände wohnen können und die Miete dort erschwinglich ist. Andere Kollegs haben so etwas nicht. Durch höhere Mieten an anderen Standorten können sie das Abitur nicht weitermachen.“
Mittlerweile haben sich einige Studierende organisiert und bereits vor der Ratssitzung Mitte Dezember gegen die Schließung protestiert. Sie wollen, dass das Niederrhein-Kolleg erhalten bleibt. Auch Joanna Vetter gehört zu denen, die sich engagieren. „Bildung ist das allerhöchste Gut. Es kostet viel Mut, den Zweiten Bildungsweg zu starten, es ist auch emotional eine Herausforderung. Noch einmal von vorne anzufangen, ist eine große Hürde. Dennoch sollte jeder die Chance bekommen, sein Leben zu verbessern.“
Studierende planen im Januar eine Demo für den Erhalt in Düsseldorf
Sie selbst habe „reines Glück“ gehabt, dass sie bereits im dritten Semester studiert und den Abschluss in Oberhausen noch machen kann. „Ich hätte genauso gut wie andere meiner Freunde erst ein halbes Jahr später anfangen können. Dann würde ich jetzt auch vor großen Problemen stehen.“ Am 19. Januar 2022 hat die Gruppe der Studierenden eine Demo vor dem Landtag in Düsseldorf angemeldet. Auch die Online-Petition, die bereits läuft, hat mittlerweile fast 3000 Unterschriften. „Wir hoffen weiter.“
Kollegium am Niederrhein-Kolleg will Studierenden bei der Umorientierung helfen
Die kommissarische Schulleiterin Kirsten Manfraß betont auf Nachfrage unserer Redaktion, dass das Kollegium ihr Möglichstes tue, um die Studierenden zu unterstützen. Fest steht, dass Männer und Frauen, die derzeit einen Vorkurs an der hiesigen Volkshochschule besuchen, um danach ans Kolleg zu wechseln, sowie Studierende, die derzeit im ersten oder zweiten Semester lernen, ihren Abschluss nicht mehr am Niederrhein-Kolleg erlangen werden können. „Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt, dass einige Erstsemester sofort an ein anderes Kolleg wechseln wollen. Auch den Studierenden im zweiten Semester haben wir einen schnellstmöglichen Wechsel ans Herz gelegt.“
Denn: Ab dem dritten Semester belegen die Studierenden Leistungskurse, in denen sie ihre Abiturprüfung ablegen müssen. „Durch die niedrige Schülerzahl können wir lediglich Deutsch und Biologie als Leistungskurse anbieten. Wenn die Studierenden erst zu einem späteren Zeitpunkt wechseln, müssen sie an einem anderen Kolleg gegebenenfalls wieder von vorn in andere Leistungskurse starten.“
Studierende dürfen weiter im Wohnheim des Niederrhein-Kollegs wohnen
Beim Wechsel helfen sollte auch eine Infoveranstaltung im Dezember, die die Schulleitung kurz nach Bekanntwerden des Landesbeschlusses einberufen hatte. Dort stellten sich zwei Kollegs aus Essen und Düsseldorf vor, einige Studierende hätten sich kurzerhand bereits während der Veranstaltung umgeschrieben. Eines von beiden, das ehemalige Nikolaus-Groß-Abendgymnasium in Essen, wird ab dem 1. Februar zum Weiterbildungskolleg und kündigte unlängst an, Studierende aus Oberhausen zu übernehmen. Eine Lehrerin des Kollegs besucht mit interessierten Studierenden zudem in den nächsten Wochen die Kollegs, damit sie sich ein Bild von der Situation vor Ort machen können.
Eine positive Nachricht kann Kirsten Manfraß allerdings auch vermelden: „Das Schulministerium hat beschlossen, dass die Studierenden, die derzeit in unserem Wohnheim auf dem Schulgelände leben, weiter hier bleiben dürfen – auch wenn sie ein anderes Kolleg besuchen sollten.“
Externe Unterstützung für das Niederrhein-Kolleg
Viele Institutionen und auch die Politik setzen sich für den Erhalt des Niederrhein-Kollegs ein. Besonders Stefan Zimkeit (SPD) nahm sich bereits im Sommer des Themas an. Auch die Volkshochschule möchte eine Schließung des Kollegs verhindern, da die Vorkurse für die angehenden Studierenden in der VHS stattfinden, bevor die Männer und Frauen zum Kolleg wechseln.
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Oberhausen will die Abwicklung des Niederrhein-Kollegs verhindern. In einer aktuellen Pressemitteilung heißt es: „Wenn Oberbürgermeister Daniel Schranz in der letzten Ratssitzung von einer ,vertraulichen Vorabinformation’ hinsichtlich der beabsichtigten Schließung an die Stadt (WAZ Oberhausen, 17. Dezember) sprach, ist das nach Auffassung der GEW in mehrfacher Hinsicht empörend.“
Zudem stellt die GEW in Frage, warum das Thema nicht spätestens auf der Tagesordnung des Rates stand und warum die Ausschüsse nicht unverzüglich beteiligt wurden. Das Schulministerium sei aufgefordert, den Dialog mit den Verantwortlichen von Stadt und Land aufzunehmen, und der Oberbürgermeister solle „unverzüglich gegen die auf ‚kaltem Wege‘ begonnene Abwicklung des Niederrhein-Kollegs intervenieren und mit den Ratsgremien eine Initiative auf Erhalt vorbereiten“.