Oberhausen. Unsere Gesellschaft steht an einem Scheideweg: Sie ist hysterischer, aggressiver und hasserfüllter geworden. Es gibt dennoch Grund zur Hoffnung.
Weihnachten im zweiten Pandemiejahr liegt besonders arbeitnehmer-unfreundlich. Die geruhsame Zeit mit der Familie schrumpft. Dabei hätten wir alle mehr ruhige Tage benötigt, über den Unbill dieser Zeiten nachzudenken. Denn dieses Weihnachten ist alles andere als friedlich; nicht nur die Sensiblen spüren, dass sich unsere Gesellschaft an einem Scheidepunkt befindet: Sie ist aggressiver, hysterischer, spalterischer, hasserfüllter geworden. Das besorgt.
Seit den 60er Jahren dominiert in den westlichen Gesellschaften der Trend zunehmender Individualisierung und kritischer Grundhaltung gegenüber allen Institutionen, Vereinigungen und Machthabenden. Das war und ist sinnvoll, weil mündige, gut informierte, kritische Bürger die Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratien sind.
Ein selbstzerstörerischer Trend
Dieser Trend wird jedoch für Gemeinschaften selbstzerstörerisch, wenn ein nennenswerter Teil der Bevölkerung nur noch das „Ich“ statt das „Wir“ sieht, wenn aus Kritikfähigkeit die Dauer-Unterstellung wird, Repräsentanten, ob Unternehmer, Politiker, Beamte, Gewerkschafter, wollten vor allem Böses. Jede Gesellschaft benötigt ein Mindestmaß an Vertrauen in andere Bürger und Organisationen, eine solide Größe an Vernunft sowie ein Minimum gemeinsam akzeptierter Grundsätze. Doch diese Basis ist in Gefahr – und das erkennt man beispielhaft an der hitzigen Impfdebatte.
Dass mathematische und physikalische Gesetze gelten, ist keine Frage des Glaubens, sondern des Wissens. Wissenschaftler forschen nach über Jahrhunderte bewährten Regeln und gegenseitigen Kontrollen – die Erkenntnisse einer breiten Mehrheit dieser Forscher sind gesichert. Durch ein bisschen Herumgelese auf irgendwelchen Internet-Kanälen lässt sich dieses fundierte Wissen nicht einfach vom Tisch wischen. Keiner kann alleine feststellen, welche Wirkung eine Pille, eine Impfdosis, ein Lebensmittel wirklich hat. Dabei helfen Erfahrungswissen und das Vertrauen in die regelhafte Arbeit der Institutionen und Fachleute.
Leider keine kleine Gruppe, die das Grundvertrauen verloren hat
Es ist leider keine kleine Gruppe von Menschen in Deutschland, denen dieses grundsätzliche Vertrauen verloren gegangen ist: Über zehn Millionen Menschen, die es könnten, haben sich nicht impfen lassen – gegen eine potenziell tödliche Seuche. Warum diese Bürger die Gefahr durch das unkalkulierbare Coronavirus geringer einschätzen als die Gefahr durch eine milliardenfach verabreichte Impfung, ist mit Vernunftmitteln nicht zu erklären. Genauso wenig, warum sich zahlreiche Menschen wenig pandemie-gerecht verhalten.
Ohne Impfung jedenfalls kommen wir nicht aus der Pandemie-Misere heraus, es sei denn, eine Mutation verbreitet sich, die weniger schlimm krankmachend ist als die bisherigen Varianten, oder die bisher Impf-Unwilligen erkennen sowohl das „Ich“ als auch das „Wir“ einer Impfung für sich.
Ohne Hoffnung sind beide Szenarien nicht. Menschen haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie einsichtiger, klüger, solidarischer werden können – und auch große Krisen besiegen. Mit dieser Hoffnung sollten wir Weihnachten feiern – nachdenklich im Kreise unserer Liebsten.