Oberhausen. Bei der letzten Bundestagswahl im September 2017 haben nirgendwo so wenig Oberhausener gewählt wie in Lirich-Süd. Wer ist schuld daran?
Nirgendwo in Oberhausen haben so wenige Menschen ihre Stimme bei der letzten Bundestagswahl abgegeben wie in Lirich-Süd – nur 59 Prozent. Insgesamt waren es in der Stadt 72 Prozent. Wer ist schuld daran: die Bewohner des Stadtteils, die sich nur für ihre persönlichen Belange interessieren? Oder Politikerinnen und Politiker, die ihnen nicht dabei helfen, den Kreislauf aus Arbeitslosigkeit, Armut und geringer sozialer Teilhabe zu durchbrechen? Wir haben diejenigen Menschen gefragt, die dort leben. Und die, die seit Jahrzehnten schon versuchen, die Umstände erträglicher zu machen. Und auch die, die alles dafür geben, damit die Liricher künftig vor den Wahlkabinen Schlange stehen.
Viele Zuwanderer, viele junge Leute
Laut einer Sozialraumanalyse der Stadt Oberhausen von 2019, die Lirich und Alstaden erfasst, besteht in Lirich-Süd die höchste Bevölkerungsdichte. Mit 50 Prozent lebt hier ein hoher Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund (Gesamt-Oberhausen: 30 Prozent). Die Bevölkerungsstruktur des Quartiers ist mit einem Jugendquotienten von 34 sehr jung (Oberhausen: 25). Der Grünflächenanteil ist mit 19 Prozent sehr gering (Lirich-Nord: 36 Prozent). 32 Prozent der Familien sind alleinerziehend (Oberhausen: 26 Prozent). Es besteht ein hohes Beschäftigungsdefizit: Nur 44 Prozent sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt (Oberhausen: 53 Prozent).Es bestehen hohe Transferleistungsquoten in allen Altersgruppen, die Kinderarmut betrifft 53 Prozent (Oberhausen: 30 Prozent). Die Elternbildung ist niedrig, 47 Prozent haben keinen oder einen einfachen Abschluss (Oberhausen: 27 Prozent). 28 Prozent der Kinder besuchen weniger als zwei Jahre eine Kita (Oberhausen: 19 Prozent) und ebenso viele sind Mitglied in einem Sportverein (Oberhausen: 48 Prozent).
Morgens um zehn brausen zwar viele Autos durch die mehrspurigen Straßen des Stadtteils, zu Fuß ist jedoch so gut wie niemand unterwegs. Vor der Berufsschule gleich gegenüber genießen Schülerinnen und Schüler ihre Pause. Wir wollen weg von der lauten Hauptstraße und landen schnell im berühmt-berüchtigten Wohnpark Bebelstraße. Der Spielplatz an den Hochhäusern ist verwaist.
Was wünscht sich der Mann aus Afghanistan von der Politik?
Ein Hausmeister in grauer Kluft läuft mit Werkzeugkoffer durch die Szenerie. Da kommt endlich ein Bewohner. Ein kleiner älterer Herr, dunkle Hautfarbe, schneller Schritt. Hallo! Mit freundlich-überraschtem Gesicht schaut er sich um. Hört sich das Anliegen an: die Wahlbeteiligung, die Probleme im Stadtteil… Doch ein Gespräch ist nicht möglich. „Ich interessiert nicht“, sagt er immer wieder. Er habe keinen deutschen Pass, verstehen wir. Und eine komplizierte Einwanderungsgeschichte. Aus Afghanistan stammend, hat er offenbar auch im Iran und in der Türkei gelebt. Überall sei er schon Ausländer gewesen. Mehr zu erfahren ist unmöglich. Würde er gerne wählen, wenn er dürfte? Was wünscht er sich von der Politik?
Es wäre ein Leichtes, aus dieser Begegnung jetzt ein Bild zu zeichnen, das beschreiben soll, woran es in Lirich-Süd hapert. „Ungeheuer viele Nationalitäten, die ganz unterschiedlich in Deutschland angekommen sind“, beschreibt Uwe Beier, Geschäftsführer des Zentrums für Ausbildung und berufliche Qualifikation (ZAQ), das Viertel und insbesondere den Wohnpark, in welchem ZAQ in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt schon seit 30 Jahren Angebote sozialer Arbeit macht. Es gebe ein hohes Maß an armen Menschen – „und wenn existenzielle Probleme den Alltag bestimmen, dann kostet das viel Kraft.“ Dies sei eine Erklärung für Desinteresse an Politik und Wahlen. Beier: „Bildungsferne und soziale Teilhabe stehen immer eng im Zusammenhang mit Armut.“
Abgehängt sieht Uwe Beier den Stadtteil jedoch nicht. Alle, die soziale Verantwortung trügen in der Stadt, seien bemüht. „Aber so viele gesamtgesellschaftliche Fragen, wie es hier gibt, die kriegt man in einer Generation nicht gewuppt.“ Ob es eine gibt, auf die es sich zu konzentrieren lohnt? „Die Kinderarmut muss abgeschafft werden. Sie ist ein Skandal.“
Wertschätzung für Jugendliche, die Wähler von morgen
Im „Jugendclub Courage“ kennen sie die Sorgen der Familien in Lirich-Süd sehr genau. Die Jugendlichen werden nicht nur aufgefangen, sie erhalten auch Kraft und Zuversicht, die ihre Eltern ihnen vielleicht nicht geben können. Hier erleben sie, dass ihre Stimme wichtig ist, dass sie etwas verändern können. Wie zum Beispiel bei der U-18-Wahl, die im Vorfeld der Erwachsenen-Wahl gerade durchgeführt wurde. „Die Jugendlichen müssen Teilhabe erfahren“, sagt Jugendbildungs-Referent Benedict Neugebauer. „Damit sie sich in Konzepten wie parlamentarischer Demokratie wiedererkennen können.“ Hürden könne man durch positive Erfahrungen abbauen.
Jessica Hoge, Leiterin der offenen Kinder- und Jugendarbeit im „Courage“, pflichtet ihm bei. „Das Verständnis ist nicht da – nicht wegen kognitiver Fähigkeiten, sondern weil sie sich politisch abgehängt fühlen. Weil sie denken: Meine Stimme zählt eh nicht.“ Die U-18-Wahl sei super angekommen und soll auf jeden Fall wiederholt werden. Dabei gehe es vor allem um Wertschätzung, meint „Courage“- Mitarbeiter Cihan Bilik. „Natürlich kommen wir mit unserer Arbeit auch an Grenzen“, sagt der Student. „Wir könnten Shuttle-Busse organisieren und die Leute zur Wahl fahren. Aber sie sollen ja von sich aus hingehen. Wir vermitteln den Sinn und Zweck des Ganzen, den Rest müssen sie selbst machen.“
Wir treffen Monika Lohmanns, die gerade mit ihrer Hündin Maya spazieren geht. „Hier leben meistens Menschen, die sozial schwach sind“, sagt die 76-Jährige. „Die haben keine anderen Sorgen, als zu schauen, wo sie Geld herbekommen.“ Sie ist auch wütend: „Als meine Kinder klein waren, habe ich sieben Jahre lang Nachtschicht gemacht, damit ich sie tagsüber sehen konnte.“ Sie habe als Hauswirtschafterin gearbeitet, als Fabrikarbeiterin und Tierarzt-Hilfe. Viele andere würden nichts tun. „Die werden ja auch gut behandelt vom Staat.“ Und jetzt müsse sie nach 42 Jahren Arbeit mit 920 Euro Rente auskommen.
Treffen die Themen der Parteien nicht den Nerv der Zeit?
Schlechte Lebensbedingungen schüren Unzufriedenheit, aber auch Neid und Groll auf andere. Eine ungute Mischung, die mit Unverständnis und Furcht vor allem, was fremd erscheint, zu Konflikten führen kann. Denn neben der Frage, warum nicht gewählt wird, steht ja noch die zweite im Raum: Wo werden die Kreuzchen gemacht? „Nicht teilhaben zu können, macht auch anfällig für bestimmte Theorien“, spielt Uwe Beier von ZAQ darauf an, sich die vergangenen Wahlergebnisse mal genauer anzusehen. Fast nirgendwo sonst war die Zustimmung für die AfD so hoch wie in Lirich-Süd. Ein Trend, der sich bei der diesjährigen Wahl verstärken wird?
„Die meisten meiner Freunde gehen nicht wählen“, sagt Dustin Timmer, 26 Jahre alt, Kaufmann im Einzelhandel, arbeitssuchend. Auch ihn treffen wir in einer Seitenstraße in Lirich-Süd. „Die Parteien sprechen mich nicht an“, sagt er, „und die Kanzlerkandidaten auch nicht. Die reden immer um den heißen Brei herum.“ Um junge Menschen gehe es nie. Eine Beobachtung, die den Wahlkampf 2021 sehr treffend beschreibt.
Auch über Menschen mit Einwanderungsgeschichte ist in den vergangenen Wochen so gut wie gar nicht gesprochen worden. Alles Themen, die Nicht-Wähler mobilisieren könnten. Denn: „Wir leben in einer hochpolitischen Zeit“, sagt Benedict Neugebauer von „Courage“. Die Effekte der Migration seit 2015, Corona und die Klima-Krise hätten eine große Unmittelbarkeit für jeden von uns. Seine Beobachtung: Die Menschen interessieren sich und engagieren sich auch, im Sportverein oder in der Alevitischen Gemeinde. „Aber von der Parteipolitik fühlen sie sich nicht abgeholt.“
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