Oberhausen. Vom Arzt, der seinem Patienten einen Tumor verschweigt bis zu „Schweinereien“ in der Diagnostik: Autorin Bettina Hitzer zu Gast in Oberhausen.

Nur Zyniker würden behaupten, dass die Eröffnungsworte von Harald Obendiek bestens zum Thema des Abends im Café Klatsch auf der Elsässer Straße passten: „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ von Bettina Hitzer. Verkündete das Vorstandsmitglied der „Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Oberhausen e.V.“ just jenen doch bemerkenswert unemotional eine unerfreuliche Nachricht. Man müsse sich ein neues Domizil suchen, weil Emile Moawad von der benachbarten Weinlounge „Le Baron“ in der Pandemie ein neues gastronomisches Konzept entwickelt habe und nun die Räumlichkeiten an der Markstraße 146, die er dem Literaturhaus bislang zur Verfügung gestellt hat, selbst benötige.

„Emile Moawad hat uns 2017 sehr uneigennützig Raum gegeben und uns tüchtig auf die Sprünge geholfen“, erklärte Harald Obendiek. „Wenn das jetzt nicht mehr passt, weil er sein Konzept verändert hat, dann ist das halt so.“ Und dann ging’s auch schon weiter im Programm – mit der Lesung. Obendiek stellte seinen Gästen, interessanterweise überwiegend Damen, die 1971 geborene Bettina Hitzer als an der FU Berlin lehrende Historikerin vor, die sich mit viel Empathie einem der großen Medizinthemen des 20. Jahrhunderts gewidmet habe. Dass ihre opulente Habilitationsschrift auf gut lesbare 540 Seiten gekürzt als „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ (geb., 28 Euro) 2020 bei Klett-Cotta erschien und prompt mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Sachbuch und Essayistik“ ausgezeichnet wurde, muss man als Gewinn für all diejenigen bezeichnen, die sich reflektierend mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzen wollen.

Bettina Hitzer: Vortrag erfreulich unakademisch

Nicht zufällig begann Bettina Hitzer ihre Lesung, die eher ein erfreulich unakademischer Vortrag war, denn auch mit dem Schweizer Maler Ferdinand Hodler, der das Siechtum seiner an Gebärmutterhalskrebs erkrankten Geliebten Valentine Godé-Darel in einem Zyklus von über 50 Bildern akribisch dokumentierte. Es war kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als dergleichen noch verpönt war, eine der ersten öffentlichen Äußerungen über Krebs – als visuelle Expression eigener Gefühle.

Die Lesung mit Bettina Hitzer fand im Café Klatsch an der Elsässer Straße in der Innenstadt statt.
Die Lesung mit Bettina Hitzer fand im Café Klatsch an der Elsässer Straße in der Innenstadt statt. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Hitzers kurz und anschaulich präsentierte Diskussion der unter Psychologen umstrittenen Frage, ob Gefühle historisch immer gleich und universalistisch oder aber auch kulturell geprägt seien, führte die Zuhörerschaft schließlich nach New York. Wo 1951 Milton Tarlan und Erwin Smallheiser am NYC Cancer Institute die spannende Frage untersuchten: Haben Gefühle einen Einfluss auf Krebs?

Überschlagen wir ihre Untersuchungsmethodik, zu der u.a. der berüchtigte Rorschach-Test („Aber Herr Doktor, Sie haben doch all die Schweinereien gemalt!“) gehörte, mit der sie je elf an Brust- und Gebärmutterhalskrebs erkrankte Frauen traktierten. Mit der sexualpathologischen Erkenntnis zweier unterschiedlicher „Krebs-Persönlichkeiten“, über die man heute nicht einmal mehr lachen kann. Was man in den prüden 50er-Jahren noch gläubig hinnahm, wurde ein Jahrzehnt später zurecht scharf kritisiert.

Paradebeispiel für ambivalente Gefühle

Bettina Hitzers zweiter Themenkomplex widmete sich der Vorstellung „Krebs als heilbare Krankheit“, wie sie etwa 1956 in der DDR, als noch 80 Prozent der Patienten am diagnostizierten Krebs starben, der Aufklärungsfilm „Rechtzeitig – eine Mahnung des Lebens“ propagierte. Früherkennung betrachtete man damals als Prophylaxe, die zumindest im Fall des weit verbreiteten Gebärmutterhalskrebs auch Wirkung zeigte.

Emotional wurde es dann bei der Fallgeschichte des Majors Anton K., dem (gnädigerweise?) von dem berühmten Heidelberger Mediziner Karl-Heinrich Bauer ein bereits metastasiertes Magenkarzinom verschwiegen wurde. Wovon jedoch die Ehefrau wußte, die Bauer schrieb: „Ich hoffe nur, dass sich bis zum Schluss die Illusion bei meinem Patienten erhalten kann, dass es ihm täglich etwas besser geht, oft bitter schwer.“ Ein Paradebeispiel für ambivalente Gefühle, wie Bettina Hitzer klug erläuterte, als Wechselspiel von Nähe und Distanz sowie dem normativen Verbot, über Krebs zu sprechen. Ihre Schlussfolgerung: Das relativiert die heutige Haltung der Palliativ-Medizin eines „bewussten Sterbens“, das nicht immer dem Wunsch des Sterbenden entspricht.

Beeindruckte Zuhörer

Abschließend widmete sich die Historikerin der Geschichte kurativer Chemo-Therapie, die in den 1940er-Jahren am New Yorker Memorial Hospital von Cornelius P. Rhodes aus militärischen Forschungsansätzen entwickelt wurde. Und rasch zu „vielfältigen Therapie-Möglichkeiten gegenüber Operation und Bestrahlung“ führte. Mit der Folge, „dass Hoffnung immer wieder neu geschaffen werden kann.“ Und dann zeigte Bettina Hitzer anhand eines literarischen Beispiels die Ambivalenz dieses Fortschritts: Einerseits sei Hoffnung auf einen neuen Wirkstoff ein mächtiges Gefühl und andererseits ein „Folterinstrument“, weil Zahlen und Wahrscheinlichkeiten eine eigene Gefühlsdynamik entfalten könnten.

Klaus Zwick liest am 9. Juli Open Air

Am 9. Juli ist das Literaturhaus in der Zeche Alstaden an der Solbadstraße 53 zu Gast. Dort liest ab 19 Uhr dann der Oberhausener Schauspieler Klaus Zwick in einem Open-Air-Auftritt aus Arno Geigers berühmtem Alzheimer-Buch „Der alte König in seinem Exil“, das den allmählichen Verfall des Vaters einfühlsam nacherzählt.Weitere Informationen und zu künftigen Veranstaltungen des Literaturhauses gibt es im Internet auf der Seite literaturhaus-oberhausen.de.

Es war eine beachtliche Leistung an diesem hochinteressantem Abend, dass Emotionen zwar aufgezeigt wurden, aber in dem lebendig-sachlichen Vortrag der Autorin nicht auf ihre beeindruckten Zuhörer übersprangen. Deren berechtige Frage, warum denn vor allem Frauenleiden thematisiert wurden, klärte sich in der anschließenden Diskussion. Besagter Major sei übrigens nicht am Magenkrebs gestorben, sondern aufgrund der dadurch ausgelösten Gelbsucht friedlich eingeschlafen, so ein anwesender Psycho-Onkologe – was man durchaus als tröstend begreifen darf.