Oberhausen. In Oberhausen registrierte allein Pro Familia 73 Beratungen zum Thema – mehr, als je zuvor. Täter suchen sich gezielt unselbstständige Kinder aus.
Die Missbrauchsfälle in den Kleingärten in Lügde und Münster haben bundesweit für Entsetzen gesorgt. Doch wer glaubt, dies seien nur Einzelfälle, hat sich getäuscht. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) erleiden jedes Jahr eine Millionen Kinder in Deutschland sexuellen Missbrauch. 2019 registrierte allein Pro Familia in Oberhausen 52 Fälle und 73 Beratungen zum Thema – und damit mehr, als je zuvor (2018: 29 Fälle, 44 Beratungen).
Susanne Kaltwasser ist Diplom-Pädagogin bei Pro Familia, sie bietet Beratungen gegen sexualisierte Gewalt an, schult pädagogische Fachkräfte in Familienzentren und Schulen. Die gestiegenen Zahlen in Oberhausen führt sie vor allem auf eine verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit zurück. „Lügde und Münster haben gezeigt, dass das Unvorstellbare längst Wirklichkeit ist.“ Vor allem Fachkräfte schauten jetzt noch genauer hin. Für Susanne Kaltwasser eine gute Entwicklung, die sie aber an ihre beruflichen Grenzen bringt: „Ich habe nur eine halbe Stelle, wir benötigen für diesen Bereich dringend zusätzliches Personal.“
Verletzungen der Seele sind auf den ersten Blick oft nicht erkennbar
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Meist seien es Erzieherinnen, Lehrer oder Schulsozialarbeiter, die sich an sie wenden. Die Expertin empfiehlt bei allen Verdachtsfällen eine ausführliche Dokumentation. Wie verhält sich das Kind? Haben Kollegen ähnliche Beobachtungen gemacht? Zeigt ein Kind ein merkwürdig sexualisiertes Verhalten, wird es selbst übergriffig – sollte das Umfeld hellhörig werden. Denn: „Misshandelte Kinder haben blaue Flecken, missbrauchte Kinder nicht – die Täter achten auf äußerliche Unversehrtheit.“ Die Seele aber nimmt immer Schaden – was sich oft durch ein auffälliges Verhalten zeigt. Doch nicht immer sind die schweren seelischen Verletzungen der Kinder auf den ersten Blick erkennbar. „Einige spalten das ab, verhalten sich extrem angepasst, glänzen unter Umständen sogar mit hervorragenden Schulnoten.“
Es sei eine Tatsache, dass Kinder in der Regel bis zu sieben Erwachsenen vom erlebten Missbrauch erzählen müssen, bevor ihnen die achte Person glaubt, weiß Kaltwasser. Gerade kleinen Kindern aber fehlen noch die Worte, um zu beschreiben, was mit ihnen passiert. Nicht immer dürfe dabei das Erzählte wörtlich genommen werden: „Ein Fünfjähriger schob die Taten einem Onkel unter, weil er es selbst für unvorstellbar hielt, dass sein eigener Vater ihm so etwas antut.“
Nicht hinter jedem auffälligen Verhalten steckt ein Missbrauch
Und eine Vierjährige erzählte der Erzieherin in ihrer Kita: „Mein Opa kann mit seinem Zauberstab Schnee machen.“ Die Vierjährige kam immer wieder darauf zurück. Als die Kleine schließlich sagte „Ich will nicht, dass mein Opa das macht“, wurde die Erzieherin misstrauisch und wandte sich an die Beratungsstelle.
„Wir schauen uns solche Fälle gemeinsam genau an und schalten gegebenenfalls das Jugendamt ein“, erzählt Kaltwasser. Doch Vorsicht: Nicht hinter jedem auffälligen Verhalten steckt ein Missbrauchsfall. „Wir hatten auch schon einmal ein Kind, dass sich plötzlich total veränderte, als wir nachforschten, stellte sich heraus: Die Oma des Jungen war verstorben und er litt sehr darunter.“ Einige Fälle lösen sich auf. Andere tauchen immer wieder in der Beratungsstelle auf. „Da gab es den Verdacht in der Kita, dann in der Grundschule, schließlich in der weiterführenden Schule.“
Die Aussagen von Kindern unter fünf Jahren werden vor Gericht angezweifelt
Es sei oft sehr schwierig, den Tätern etwas nachzuweisen. Obwohl 99 Prozent der Kinder über die Taten sprechen. Aber gerade die Aussagen von Kindern unter fünf Jahren würden vor Gericht angezweifelt. Dazu kommt: „Die Täter suchen sich gezielt schüchterne, unselbstständige Kinder aus und setzen diese massiv unter Druck.“ Dem einen Kind werde eingeredet, dass es sich ja nicht gewehrt hat, also alles selbst so wollte. „Diese Kinder leiden unter enormen Schuldgefühlen.“ Die anderen werden bedroht: „Wenn du etwas erzählst, stirbt die Mama – für ein Kind gibt es nichts Schlimmeres.“
20.000 Euro für den Verhütungsmitteltopf
Die Veranstaltungen mit Schulklassen bis zu den Sommerferien wurden wegen der Corona-Krise von den Schulen abgesagt. Die Mitarbeiter von Pro Familia weisen darauf hin, dass sich Lehrer montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr unter 0208-867771 oder in der Jugendsprechstunde montags von 13 bis 15 Uhr unter 0208-871155 melden können. Selbstverständlich können sich auch Schüler zu allen Fragen der Sexualpädagogik beraten lassen.
Was die Mitarbeiter von Pro Familia im vergangenen Jahr besonders freute: Für 2019 hatte die Stadt den Verhütungsmitteltopf für bedürftige Frauen gut ausgestattet. Mit dem Geld konnten über 200 Frauen und Paare versorgt werden. Auch der Zonta Club Oberhausen hatte mit einer Spende geholfen. Ebenso wie Gerburg Jahnke mit einer Benefizveranstaltung im Ebertbad. Insgesamt kamen 20.000 Euro zusammen.
95 Prozent der Täter stammen aus dem Nahbereich, aus der Familie, der Jugendgruppe, dem Sportverein. 80 Prozent seien Männer, 20 Prozent Frauen. „Dabei gelingt es ihnen, alle anderen geschickt hinters Licht zu führen.“ Da ist der tolle junge Trainer, den alle mögen. Oder die nette Tante, die sofort einspringt, wenn die alleinerziehende Krankenschwester unerwartet eine Schicht übernehmen muss.
Im Verdachtsfall unbedingt die Ruhe bewahren
Keimt ein Verdacht auf, rät Kaltwasser: „Unbedingt die Ruhe bewahren.“ Schnellschüsse würden nicht helfen. „Wir hatten hier mal eine Erzieherin, die den Eindruck hatte, ein Vater würde seine beiden Töchter, drei und fünf Jahre alt, missbrauchen.“ Die Erzieherin fuhr sofort zu den Eltern und konfrontierte sie mit ihrem Verdacht. „Das Ergebnis war, dass der Vater die Kinder am nächsten Tag vom Kindergarten abmeldete – wir konnten nie klären, ob er tatsächlich übergriffig geworden ist oder nicht.“ Sich zu einem frühen Zeitpunkt an die Polizei zu wenden, könne ebenfalls kontraproduktiv sein. „Die Polizei muss eine Gefährderansprache halten, dadurch wird der Täter gewarnt“, sagt Pro Familia-Leiter Andreas Müller.
In manchen Fällen gelinge es nie, den Tätern etwas nachzuweisen. „Doch es ist ein Trost, dass uns Betroffene, die später als Erwachsene zu uns kamen, erzählten, wie wesentlich es für ihre Genesung war, dass es bei all dem Leid auch Menschen gab, die ihnen geglaubt haben“, sagt Kaltwasser.