Oberhausen. 2005 absolvierte der katholische Geistliche ein Praktikum in Chicago. Er kennt die USA gut. Ein Interview zur Lage nach dem Tod von George Floyd.
Der Tod von George Floyd, der in den USA durch Polizeigewalt starb, hat die ganze Welt erschüttert und aufgerüttelt, gleichzeitig der „Black Lives Matter“-Bürgerbewegung global Auftrieb gegeben. Unsere Redaktion sprach mit Propst Christoph Wichmann von St. Pankratius in Osterfeld über die aktuelle Entwicklung in den USA.
Herr Wichmann, Sie haben 2005 ein zweimonatiges Praktikum in Chicago absolviert. Wie kam es dazu?
Christoph Wichmann: Ich war damals Student der katholischen Theologie an der Ruhr-Universität in Bochum. Da gab es ein neues Programm, genannt „Crossing Over“. Sowohl Studenten als auch pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten sich von dem Gemeindeleben in den USA inspirieren lassen, es kennenlernen und dann frische Ideen mit nach Hause bringen. Die USA haben mich schon seit Kindheitstagen fasziniert. Ich war also gleich einer der ersten Studenten, die an dem Programm teilnahmen, und habe in der Old St. Patrick’s Church in Chicago gearbeitet. Eine geniale Zeit!
Eine geniale Zeit - wieso?
Die Mission dieser irisch geprägten Gemeinde und die Gastfreundschaft aller Gemeindemitglieder haben mich damals zutiefst berührt und prägen mich bis zum heutigen Tag. Ich konnte bei meinen inzwischen doch recht zahlreichen USA-Aufenthalten immer wieder viele positive Menschen kennenlernen - das vergesse ich nie.
Allerdings werden die USA derzeit mit ganz anderen Dingen in Verbindung gebracht - mit Polizeigewalt, mit Hass und gesellschaftlicher Spaltung…
…schon 2005 blieben mir die Schattenseiten der US-Gesellschaft nicht verborgen: Armut, Drogen, Obdachlosigkeit, Schulden, Hunger, Prostitution, soziale Ungerechtigkeit, Klassenkämpfe, Gewalt, Rassismus, sinnloser Reichtum, Gettoisierung, Sexismus, Nationalismus, Zensur, Fake News und peinliche Politiker. Deshalb bleibt meine Faszination immer getrübt, sozusagen eine ambivalente Liebesbeziehung.
Was haben Sie gedacht, als Sie das Video von George Floyds Tod sahen?
Ich war schockiert. Aber ich war nicht völlig überrascht, denn ähnlich schlimme Vorfälle in den Jahren und Jahrzehnten zuvor haben ja immer wieder gezeigt, dass man stets mit so etwas rechnen muss, leider gerade in den USA. Natürlich sind Rassismus, purer Hass und tödliche Polizeigewalt kein neues Problem dort, doch die Bilder dürfen niemanden unberührt lassen. Wobei ich hier ausdrücklich sagen möchte: Alltagsrassismus ist kein ausschließliches amerikanisches Problem. Alltagsrassismus gibt es auch hier, mitten unter uns, in vielfältigen Ausprägungen. Daher ist es gut, dass so viele Menschen auf der ganzen Welt auf die Straße gehen.
Wann waren Sie zuletzt in den USA?
Seit 2007 Priester im Ruhrbistum
Christoph Wichmann wurde am 24. September 1978 in Marl geboren und ist seit dem Jahr 2007 Priester im Bistum Essen.
Er studierte von 1999 bis 2004 katholische Theologie an der Ruhruniversität Bochum (RUB), arbeitete als Kaplan an St. Nikolaus in Essen-Stoppenberg und dann als Jugendseelsorger in Gelsenkirchen. Seit 2015 ist Christoph Wichmann Propst von St. Pankratius Osterfeld.
Vor etwa drei Jahren. Da war ich in New York. Aber ich habe bei meinen inzwischen wohl 15 Reisen in die USA nicht nur die Ost- und Westküste besucht, sondern auch andere Landesteile. Denn das vergessen wir ja oft hier in Europa: Die USA bestehen nicht nur aus Washington, wo die Korrespondenten sitzen, aus dem multikulturellen New York, aus Kalifornien oder Florida, sondern aus vielen weiteren, sehr ländlich und meist konservativ geprägten Bundesstaaten. Die Vereinigten Staaten sind so unglaublich groß und weit, dass man immer differenziert auf dieses Land und die Menschen schauen muss. Pauschalurteile sind auch hier wenig hilfreich. Fast wäre ich übrigens in diesem Jahr wieder nach Chicago gereist, aber dann kam Corona.