Oberhausen. Der Theaterkritiker der New York Times vergleicht Oberhausens „Die Pest“-Inszenierung mit dem „Dekalog“ des Schauspielhauses Zürich.
Eine eigene Korrespondentenstelle hat die New York Times noch nicht für Oberhausen ausgeschrieben – doch die Schlagzahl der Berichterstattung steigt. Das US-amerikanische Qualitätsblatt, dessen Autoren in den vergangenen hundert Jahren 130 Pulitzer-Preise erschrieben haben, porträtierte 2013 die ferne Stadt an Ruhr und Emscher unter der Fragestellung „das deutsche Detroit?“ – und kam (anders als etwa die Süddeutsche) zu einem abgewogenen Ergebnis.
Projektionen in der „entvölkerten Stadt Oberhausen“.
Im vorigen Jahr war dann, zum Jahrestag der deutschen Einheit, der Maler Yury Kharchenko mit seinem Atelier im Kunsthaus Haven ein Gesprächspartner der NYT-Korrespondentin, um das Befinden der mental noch immer geteilten Nation auszuloten. Und jetzt, während New York gezeichnet ist von der Corona-Pandemie, blickt A. J. Goldmann für das liberale Traditionsblatt (gegründet 1851) auf „Die Pest“, jene fünfteilige Serie, die Bert Zander für das „digitale Theater Oberhausen“ in Szene setzte.
Seine amerikanischen Leser erinnert der Theaterkritiker an die US-Produktionen „Viral Monologues“ und „What do we Need to Talk about?“ als beispielhaft scharfsinnige Versuche, „neue Formate zu finden, um konventionelles Theater auf die kleinen Bildschirme eines Smartphones oder PCs zu zwingen“.
Wäre „digitales Theater“ sonst nichts anderes als Kino im Kleinformat, fragt sich der skeptische Kritiker. Albert Camus’ „Die Pest“ zu adaptieren, sieht A. J. Goldmann als offensichtliche Wahl – würdigt aber Bert Zanders besonderen Umgang mit dem „Roman der Stunde“: Keiner der Beteiligten ist sich begegnet, heißt es in jedem Vorspann der fünf „Pest“-Folgen – ein Umstand, den der Regisseur eben nicht bemüht kaschiert, sondern offensiv nutzt: „Geisterhaft“, nennt der NYT-Autor die Projektionen der Schauspieler auf Mauern, Türen und selbst Trauerweiden in der „entvölkerten Stadt Oberhausen“.
„Projekt für die kulturell interessierte Gemeinde“
Weil Regisseur Zander, wie schon für seine theatrale Filminstallation „Schuld und Sühne“, die Oberhausener eingeladen hatte, selbst Textpassagen vor ihrer Webcam vorzutragen, gleich auch „Die Pest“ einem „Projekt für die kulturell interessierte Gemeinde“. Das Ergebnis würdigt die New York Times zwar als „clevere Lösung für das Arbeiten unter dem Gebot der sozialen Distanz“. Ästhetisch sei es allerdings „pflichtschuldig“ geraten. Für Kritiker A. J. Goldmann ist diese Produktion mit einem Großteil des Oberhausener Ensembles plus 60 Bürgern zu sehr dem filmischen Erzählen verhaftet.
Gnädiger betrachtet er im zweiten Teil seines Textes die zum Vergleich herangezogene Serie aus dem Schauspielhaus Zürich, wo Christopher Rüping den „Dekalog“ („Die zehn Gebote“) nach Krzysztof Kieslowski filmte: und zwar jeweils in Echtzeit als zehn Schauspiel-Soli von ausgeprägter Experimentierfreude.
Camus’ „Roman der Stunde“ in fünf Folgen
In fünf Folgen zwischen zwölf und 27 Minuten Länge erzählt Videokünstler Bert Zander – und mit ihm das Ensemble des Theaters sowie 60 Oberhausener – vom stillen Kampf des Dr. Rieux (Clemens Dönicke) gegen „Die Pest“. Teil 5, genannt „Dénouement: die Verantwortung“ ging am Pfingstsamstag über die Bildschirme.
Wer Albert Camus’ „Roman der Stunde“ aus dem Jahr 1947 am Bildschirm erleben will, hat noch nichts versäumt: Denn die Webseite die-pest.de verlinkt zur 3sat-Mediathek und dort sind fünf Folgen noch bis November kostenlos zu sehen.
Diese Livestreams haben zwar bei der altehrwürdigen NYT die bessere Note bekommen. Doch dafür lassen sich die fünf „Pest“-Folgen aus Oberhausen dank der Zusammenarbeit mit 3sat noch bis November ansehen. Man kann sich eine eigene Meinung bilden – und gespannt sein, welches Oberhausener Thema der New York Times den nächsten Korrespondenten-Bericht wert ist.