Nach 18 Jahren hat der einflussreiche SPD-Ratsfraktionschef Wolfgang Große Brömer sein Amt abgegeben. Ein Interview über Fehler und Erfolge.
Herr Große Brömer, 18 Jahre waren Sie Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion, Sie haben nun das Führungsamt der stärksten Oberhausener Ratsfraktion abgegeben. Wie sehr schmerzt der Verlust von Einfluss und Macht aufs Stadtgeschehen?
Große Brömer: Ich habe den Abschied von dieser Funktion schon lange geplant, er ist bereits überfällig. Dennoch betrachte ich die Lage mit einem weinenden und lachenden Auge. Je näher der Termin heranrückte, desto stärker weinte mein Auge, weil man Verantwortung und Einfluss verliert. Das liegt aber in der Natur der Sache.
Sie haben den Übergang organisiert. Hätte es auch sein können, dass die SPD-Fraktion ihren Vorsitzenden vom Hof jagt?
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Je nach Wahlergebnis gibt es in einer Partei immer Diskussionen darüber, ob die Führung nicht wechseln sollte. Im Gegensatz zur Bundes-SPD sind die Oberhausener Sozialdemokraten aber von Kontinuität geprägt – ich war ja erst der vierte Vorsitzende der SPD-Ratsfraktion nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der letzten Kommunalwahl debattierte man hier auch über die Fraktionsspitze. Wenn man mir das Vertrauen nicht entgegengebracht hätte, hätte ich auch aufgehört. Das gab es dann aber immer.
Bei Ihrem Amtsantritt lag die SPD hier in Oberhausen noch bei 50 Prozent, bei der letzten Wahl waren es nur noch 38,9 Prozent – und nach allen Umfragen rutscht die SPD wohl auch in Oberhausen immer weiter ab. Wie weit ist daran auch ein Fraktionschef mitschuldig?
Natürlich trage ich als Fraktionschef eine Mitverantwortung dafür, allerdings kann man sich auch nicht vom allgemeinen Deutschland-Trend der Partei völlig absetzen. Die Wahlergebnisse verschlechterten sich für die SPD schon seit Ende der 80er Jahre, in diesem Jahrhundert ging es dann relativ deutlich nach unten. Wir haben diesen Prozess in Oberhausen abmildern und verzögern können. Es ist aber vermessen zu glauben, wir könnten in Oberhausen mehr als 15 oder 20 Prozentpunkte über dem Bundesergebnis liegen.
Bundesweit liegt die SPD in Umfragen bei nur noch 14 Prozent, in NRW sind es noch 18 Prozent. Wie erklären Sie sich den historisch beispiellosen Absturz Ihrer Partei?
Wenn ich den mit drei Sätzen erklären könnte, hätte ich wahrscheinlich den Auftrag, Bundesvorsitzender zu werden. Ursache ist eine Fülle von Entwicklungen. Wir im Ruhrgebiet haben beispielsweise zu spät erkannt, dass mit dem Strukturwandel die alten Stammwähler-Schichten wegbrechen – und wir Wähler neu ansprechen müssen. Zudem haben wir seit der Regierung Schröder erhebliche Kommunikationsdefizite: So hat auf dem Papier die SPD in der großen Koalition viele sozialdemokratische Erfolge für die Bürger erzielt – und dennoch wird die Groko ständig als Versager-Koalition dargestellt. Dazu kommen strukturelle Defizite, mit denen aber auch andere Parteien kämpfen.
Kommunikationsdefizite – das klingt stets danach, die Inhalte seien toll, nur das Marketing sei schlecht. Wie sehr aber hat die neoliberale Politik der Schröder-Regierung mit der Agenda 2010 und den teils tiefen Sozialeinschnitten für SPD-Stammwähler zum Tiefflug der Sozialdemokratie beigetragen?
Die Agenda hatte erheblichen Einfluss auf die negative Entwicklung der SPD, aber sie ist nicht ursächlich dafür. Die Agenda ist ein zu einfaches Erklärungsmodell. Denn der Sinkflug der SPD begann schon früher in den 90er Jahren: Viele Wähler nahmen SPD-Politiker nicht mehr als zugehörig war; der Partei fehlten schon damals Ideen für bessere Lebensperspektiven verschiedener Wählerschichten – das hat die Schröder-Ära nur überdeckt. Wir haben dies nicht richtig wahrgenommen, weil wir immer noch glaubten, das wird schon irgendwie gut gehen. Die Agenda bot dann nur noch den Anlass für viele treue Wähler, uns nicht mehr zu wählen.
Wenn diese Analyse stimmt, dann ist die Hoffnung der NRW-SPD falsch, mit dem Aus für Hartz-IV würden die Wähler wieder zurückkommen.
In so einer einfachen Kausalkette funktioniert das nicht. Es wird aktuell so getan, als habe Hartz IV Langzeitarbeitslose ins Elend gestürzt, dabei war es doch vorher so, dass sie nur Sozialhilfeempfänger waren, denen auf dem Weg zurück in einen Beruf nicht geholfen wurde. Das Prinzip von Hartz IV, Arbeitslose auch zu fördern, war und ist richtig. Dass wir die Hartz-IV-Reformen schon nachgesteuert haben, weiß kaum jemand. Bisher liegt jedenfalls kein überzeugendes Konzept vor, was nach Hartz IV kommen soll: Wie sichern wir Arbeitslose sozial ab und geben ihnen eine Perspektive auf neue Arbeit? Das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens jedenfalls wird sich nicht durchsetzen lassen.
Wie konnte die SPD eigentlich ihren Ruf als Kümmerer in einer Großstadt wie Oberhausen verlieren?
Ich glaube nicht, dass dies hier bei uns wirklich der Fall ist, denn wir kümmern uns nach wie vor. Im Fraktionsbüro melden sich nicht weniger Bürger als früher – und wir versuchen mit ihnen, Lösungen für ihre Probleme zu erreichen. Tatsächlich haben wir in den Städten allerdings ein strukturelles Problem der Politik: Seit Abschaffung der Doppelspitze, also einem Stadtdirektor, der das Rathaus leitet, und einem Oberbürgermeister, der vom Rat als Repräsentanten gewählt wird, konzentriert sich alles auf einen einzigen Amtsträger, auf den Oberbürgermeister. Die Bürger glauben, das ist jetzt der Chef, da beschwere ich mich gleich bei ihm. Dadurch werden die Parteien und Fraktionen im Rat von Bürgern weniger wahrgenommen. Zudem sind junge Wahlkreis-Abgeordnete oft noch zu unbekannt, um als Ansprechpartner wahrgenommen zu werden. Dritter Faktor: Früher musste man als Wahlkreis-Ratsmitglied einfach in die Kneipe gehen, um die Probleme der Bürger zu erfahren. Solche Treffpunkte im Viertel gibt es nicht mehr.
Aber sind heutzutage die Kneipen von damals nicht Facebook, Instagram & Co.?
Nein, das ist überhaupt nicht vergleichbar: Wenn früher in der Kneipe politisiert wurde und einer redete in der Wahrnehmung der meisten Leute an der Theke Blödsinn, dann wurde ihm das direkt gesagt, so dass er darüber noch einmal nachdenken konnte. Auf Facebook gibt es naturgemäß keine Auseinandersetzung Aug‘ in Aug‘: Deshalb wird in den Kommentaren gepöbelt, beleidigt -- und man will letztendlich nur seine Position bestätigt sehen. Das ist keine echte Diskussion, das sind Argumentationsblasen. Auf diese Weise hat sich auch das Verständnis zwischen Wählern und Politikern immer mehr verringert.
Auf welche Ratsbeschlüsse für Oberhausen sind Sie besonders stolz?
Einzelne Beschlüsse kann man da nicht hervorheben, sondern ich glaube, dass wir insgesamt die Entscheidungen für den Strukturwandel in Oberhausen, sichtbar an der Neuen Mitte mit dem Centro, der Köpi-Arena und der Nahverkehrs-Trasse von Süd nach Nord, gut vorangetrieben haben – das ist ein Verdienst der Oberhausener Sozialdemokratie. Außerdem haben wir den Bildungsbereich stark ausgebaut: Die vier Gesamtschulen haben Bildungshorizonte für Schichten ermöglicht, die vorher keine Chancen hatten; die Zahl der Kindergarten-Plätze ist massiv gestiegen. Solche Erfolge der SPD werden leider von Bürgern oft vergessen.
Was bedauern Sie im Rückblick? Was hätte man eher anpacken müssen?
Wir haben aus solidarischen und sozialen Überlegungen sehr lange bei Kohle und Stahl darum gekämpft, dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben. Doch wir hätten früher über Zukunftsperspektiven nachdenken müssen – auch im Bund und Land. So hätte man etwa das Problem der Altlasten-Grundstücke anpacken müssen: Es ist versäumt worden, dass die Industrie selbst herangezogen wird, ihren Grund und Boden zu sanieren und diesen günstig abzugeben. Sie hatte schließlich über Jahrzehnte den größten Nutzen davon. Stattdessen mussten die Steuerzahler, nämlich Land und Kommunen, Millionen dafür aufbringen, die Flächen aufzubereiten.
Fasziniert von der Schulpolitik
Wolfgang Große Brömer entstammt einer konservativen Familie in Oberhausen-Heide, sein Großvater war sogar für die CDU Bürgermeister in der Stadt. Vor allem wegen ihrer Schulpolitik, die breite Massen zu höherer Bildung führen wollte, trat er als 20-Jähriger in die SPD ein. Sein Abi machte er auf dem Heinrich-Heine-Gymnasium, studierte dann Mathe, Geschichte und Wirtschaft fürs Lehramt. Von 1991 bis 2000 war Große Brömer Leiter der Gesamtschule Alt-Oberhausen.
Von 2006 bis 2012 führte Große Brömer die Oberhausener SPD, seit 1989 ist er Ratsmitglied, von 2001 bis zum 29. August war er SPD-Fraktionschef im Rat. Von 2000 bis 2017 agierte er als Landtagsabgeordneter auch in Düsseldorf und hatte lange Zeit den Vorsitz im dortigen Schulausschuss inne.
Große Brömer ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter (39, 37, 35 Jahre alt) und zwei Enkelkinder. Mit dem früheren Oberbürgermeister Klaus Wehling und NRW-SPD-Generalsekretär Michael Groschek verband ihn lange Zeit eine enge Freundschaft: Einmal im Jahr fuhr das Trio gemeinsam in den Urlaub.
Wären Sie gerne einmal Oberbürgermeister-Kandidat geworden, um dann im Amt die Stadt ganz anders steuern zu können denn als Ratsfraktionschef?
Grundsätzlich bin ich ja für die alte Doppelspitze, das war eine gute Arbeitsteilung: ein Chef der Stadtverwaltung und einer, der mit dem Rat politisch die Perspektiven für die Stadt erarbeitet. Ich halte die Belastung im Amt eines heutigen Oberbürgermeisters für viel zu hoch, die Anforderungen kann keiner allein bewältigen. Deshalb würde ich früher nicht mit Klaus Wehling oder heute nicht mit Daniel Schranz tauschen wollen. In der Partei gab es tatsächlich mal eine Diskussion über eine Kandidatur von mir, aber am Ende ist es nicht dazu gekommen und aus heutiger Sicht bin ich froh darüber. Es ist mehr als ein Fulltime-Job, wenn man ihn gut machen will, unter dem der Kontakt zu Familien und Freunden stark leiden würde.
Die Inhalte der Themen, die Lokalpolitiker behandeln müssen, sind immer komplizierter geworden. Hat der Rat mit seinen ehrenamtlichen Freizeitpolitikern genug Wissen, um eine Stadt wirklich voranzubringen?
Ich habe Verständnis für diesen Zweifel. Im Vergleich zu dem Ratsgeschehen vor 30 Jahren haben Zahl und Umfang von Ratsvorlagen der Stadtverwaltung exorbitant zugenommen, die Ratsmitglieder durcharbeiten müssen. Die Anforderungen an die ehrenamtlichen Lokalpolitiker sind stark gestiegen und zugleich hat die Stadtverwaltung mit ihren professionellen Kräften und dem gestärkten Amt des Stadtoberhaupts zunehmend ein Eigenleben entwickelt. Der Rat ist in seiner Hauptfunktion, die Stadtverwaltung als Dienstleister für die Bürgerinnen und Bürger zu lenken und zu kontrollieren, faktisch in großen Teilen entmachtet worden. Wir können beispielsweise auf die Personalentwicklung im Rathaus kaum noch Einfluss nehmen.
Benötigt man also ein Profi-Parlament mit gut bezahlten Berufspolitikern auch in Großstädten wie Oberhausen?
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Nein, ich glaube nicht, dass dies die Lösung ist, dann würde nur eine weitere Ebene mit Berufspolitikern eingezogen, die ständig in der Gefahr schweben, abgehoben zu agieren. Das Ehrenamt auf kommunaler Ebene ist unverzichtbar, denn die Politiker leben in ihren Wahlbezirken, üben einen Beruf aus und wissen deshalb, wie die Menschen in ihrer Region ticken. Wichtig wäre eine größere Unterstützung der Fraktionen mit hauptamtlichen Kräften, die Informationen recherchieren sowie den Wissensaustausch zwischen Stadtverwaltung, Politik und Bürgern organisieren.
Sie sind ja noch bis zur Ratswahl im Herbst 2020 normaler Ratspolitiker der SPD. Werden Sie sich dann trotzdem überall einmischen?
Nein, das nicht. Ich werde weiterhin den Vorsitz im Schulausschuss wahrnehmen und Sprecher des Arbeitskreises Finanzen, Personal, Beteiligungen sein. Wenn mich meine Nachfolgerin Sonja Bongers fragt, werde ich ihr auch Ratschläge geben. Allerdings werde ich auf keinen Fall von der zweiten Bank den Besserwessi spielen und dem neuen Vorstand erklären, wo es lang gehen soll.
Was machen Sie nun mit ihrer vielen Freizeit – besteht nicht die Gefahr, dass Ihnen langweilig wird?
Vielleicht bin ich da naiv, aber diese Gefahr sehe ich überhaupt nicht. Ich habe so viele Hobbys, die ich wegen der knappen Zeit bisher kaum ausüben konnte. Ich lese gerne Krimis und gesellschaftspolitische Bücher, will wieder mehr Motorrad fahren und werde vielleicht ganz verwegen versuchen, das ein oder andere Stück auf dem Klavier zu spielen.
Das Interview mit dem langjährigen Oberhausener SPD-Ratsfraktionsvorsitzenden Wolfgang Große Brömer führte Redakteur Peter Szymaniak