Oberhausen. Der KiR-Vorsitzende präsentiert in der Künstlergalerie im Europahaus Werke aus fünf Jahrzehnten: von Radierungen bis zu „Galaktischen Hippies“.
Entsteht da etwa eine neue KiR-Gruppenausstellung im Europahaus? Der erste Blick legt den Verdacht nahe, so vielfältig sind die Sujets dieser Retrospektive – von zarten Zeichnungen bis zu drallen Beton-Nymphen. Doch Winfried Baar beherrscht eben eine Vielzahl von Handschriften. „Retrospektive“ heißt schlicht und treffend die Ausstellung zum 75. Geburtstag des Vorsitzenden der Kunstinitiative Ruhr, die am Sonntag, 18. August, um 18 Uhr eröffnet.
Format-sprengende Zeichnungen, groß wie Gemälde
Ein zweiter und dritter Blick auf die Baar’sche Werkauswahl lässt tatsächlich erkennen, dass sich hier ein Kreis schließt. Ein Kreis, der souverän fünf Jahrzehnte überspannt: von den frühesten, kleinformatigen Radierungen der 1970er Jahre über Format-sprengende Zeichnungen, so groß wie seine Gemälde, zu hoch aufragenden Skulpturen aus Holz und gefundenem Material. Und schließlich zu jenen kleinformatigen Schaukästen vom Anfang dieses Jahrzehnts, genannt „Göttinnen II“, denen der Künstler eine Aura von Dreidimensionalität mitgegeben hat.
Und die Musik des passionierten Sängers Winfried Baar, dessen Folk-Ensemble „Reifrock“ eingangs der 1980er sogar an der Schwelle zum Profitum musizierte? Auch sie findet sich in mehr als einer Anspielung. Dafür gleich das schönste Beispiel – und den aparten Einstieg in diese Überblicks-Ausstellung: In Petersburger Hängung zeigt die Retrospektive die Radierungen für ein „Liederbuch“ zu den Titeln des ersten „Reifrock“-Albums. „Der rechte Barbier“ zeigt in anatomischer Präzision ein herausgeschnittenes Herz. Zurückhaltender sind die anderen Blätter dieses messerscharf auf seine Sujets blickenden Realisten: Für „Horch, Kind, horch“ nach Ricarda Huch verweisen die Blechtrommel und eine uniformierte Marionette auf kriegerisches Geschehen.
Eine neue Leichtigkeit verleiht malerisch Flügel
Aus kleinen Grafiken wurden während der Wilhelmshavener Lehrerjahre des Kunstpädagogen imposante Zeichnungen im Gemäldeformat. Die meisten sind verkauft – und nur im eigens aufgelegten Katalog zu bewundern. Doch ein großes und großartiges Blatt behielt der Frankreich-Verehrer: Man erkennt auf dem Blatt „Pflasterstrand“ die Schauspielerin Juliette Binoche in einer ihrer ersten großen Rollen – oder schlicht zwei junge Obdachlose. Festgehalten sind zwei zu Tode erschöpfte Menschen, angelehnt an die kalte Pracht einer angedeuteten Pariser Architektur.
Mit dem Wechsel vom Stift zur Staffelei bringt Winfried Baar eine neue Leichtigkeit ins Spiel. Dem Traum vom Fliegen verleiht er malerisch Flügel. Der weite friesische Himmel seiner Wahlheimat war ganz klar eine Verführung. Ein fröhlicher Surrealismus bricht sich Bahn mit den Gemälden der Reihe „Menschen in Friesland“. Denn zeigt man die Boßel-Spieler und ihre Posen quasi freigestellt vor weitem Himmel und einer vorbeisegelnden Möwe, so wirken diese Landstraßen-Sportler, als starteten sie skurrile Flugversuche.
Großer Sport: die Freude an der Bewegung
Zutiefst irdisch und zugleich graziös-schwerelos gestaltete Winfried Baar nach einer längeren Kunstpause seine „Göttinnen“ im Geiste von Niki de Saint-Phalle. Diese drallen Skulpturen aus Drahtgerüsten, Gips und Acryllack feiern als Sportlerinnen die Freude an der Bewegung mit Hula-Hoop-Schwung: großer Sport.
Katalog zeigt auch die „zu großen“ Werke
Winfried Baars Retrospektive eröffnet am Sonntag, 18. August, um 18 Uhr in der Galerie KiR, Elsässer Straße 21. Hildegard Hugo begrüßt als zweite KiR-Vorsitzende die Gäste, Walter Paßgang gibt eine Einführung zu Baars Leben und Werk. Zu sehen bleibt die Ausstellung im Europahaus bis zum 29. September, geöffnet mittwochs und freitags von 17 bis 19.30 Uhr, sonntags von 16 bis 19 Uhr.
Zur Ausstellung erscheint auch ein großformatiger, 60-seitiger Katalog. Aufblättern lassen sich darin auch Abbildungen jener Werke aus fünf Jahrzehnten, die Winfried Baar für seine Retrospektive nicht mehr „zurück leihen“ konnte oder die schlicht zu groß waren für den Ausstellungsraum – wie die bis zu vier Meter hohen „Galaktischen Hippies“.
Diesen verspielten Geist überführt Baar als Bildhauer in seine Serie der „Galaktischen Hippies“. Den außerirdischen Look betonen überlange Hälse und dreieckige Holzkeil-Köpfe. Mit Witz und Akribie sowie einem gut bestückten Materialfundus hat sich der Künstler hier allerdings in eine enge Nische gearbeitet: Denn nur die kleinsten seiner Riesen-„Hippies“ passen überhaupt in die KiR-Galerie.
So wählte Baar in seiner jüngsten Schaffensphase, für die „Göttinnen II“, die kleine Form von 17 Zentimetern Höhe – und das neue Genre der „3-D-Graphiken“. Hingebungsvoll zitiert er für seine drallen Diven ältere Meister der prallen Lebensfreude: Aristide Maillol, Pablo Picasso und Fernando Botero. In Feinarbeit hebt der Künstler seine Protagonistinnen wenige Zentimeterchen vor dem Hintergrund heraus und lässt sie so – „Schwerelos“ wie die Seiltänzerin des gleichnamigen Werkes – zwischen Graphik und Relief balancieren.