In der Metoo-Debatte hat sich nach Auffassung der Grünen-EU-Abgeordneten Terry Reintke gezeigt: Bei Machtgefälle drohen Übergriffe.

Frau Reintke, was kann man als einzelne Abgeordnete bei über 700 Mitgliedern im Europäischen Parlament überhaupt erreichen? Geht man da nicht unter?

Nein, bei der direkten Gesetzgebung kann man sehr viel beeinflussen. Bei einer kleinen Fraktion wie den Grünen kann man mehr erreichen, als man von außen denkt. Im Europaparlament haben wir wechselnde Mehrheiten – wenn man gute Vorschläge macht und gut argumentiert, hat man hohen Einfluss, wie EU-Gesetze aussehen.

Viele beklagen, dass das Europaparlament zu wenig Rechte im Vergleich zur Runde der Staatenchefs hat. Was fehlt dem Parlament?

Dem Europaparlament fehlt ein ganz wichtiges Recht, das Initiativrecht. Wir können selbst keine Verordnungen, Gesetze, Richtlinien vorschlagen. Das muss geändert werden. Im Lissabon-Vertrag 2009 hat das Parlament als Co-Gesetzgeber schon sehr viel mehr Rechte bekommen. Das war eine richtige Demokratisierung der EU, aber wir müssen da weitergehen. Vor allem Kommission und Europäischer Rat müssen viel transparenter werden, da wird noch viel zu viel hinter verschlossenen Türen gemacht.

Die Beteiligung an Europawahlen ist schlecht, mehr als jeder zweite Oberhausener hat vor fünf Jahren trotz gleichzeitiger Kommunalwahl nicht gewählt. Woran liegt das?

Der entscheidende Punkt ist, dass die Menschen nicht genug erläutert bekommen, welche Alternativen zur Wahl stehen. Wir müssen als Parteien viel stärker die Unterschiede herausarbeiten. Im Europawahlkampf geht es mir darum, mit den anderen sachlich über inhaltliche Unterschiede zu streiten. Nur dann können Bürger wissen, was sie für Alternativen haben.

„Die Zeit kann auch zurückgedreht werden“

Brexit, Urheberrechts-Reform, Klimaschutz – steigt dadurch die Wahlbeteiligung bei dieser Europawahl am 26. Mai?

Ich gehe auf jeden Fall davon aus. Der Brexit und die Urheberrechtsdiskussion haben für erhebliche politische Mobilisierung gesorgt. Die Menschen haben gesehen, dass es einen Unterschied macht, ob ich wählen gehe und wen ich wähle. Viele merken jetzt, dass Grundsätze und Werte, die man für selbstverständlich gehalten hat, gar nicht selbstverständlich sind. Die Zeit kann auch zurückgedreht werden – und das wollen viele nicht.

Oberhausen und das Ruhrgebiet haben in den vergangenen Jahren viel von Fördergeldern Europas profitiert. Wie groß ist die Gefahr, dass das Ruhrgebiet durch neue Finanzverteilung künftig viel Förderung verlieren wird?

Die Europaabgeordnete Terry Reintke im Interview in Oberhausen.
Die Europaabgeordnete Terry Reintke im Interview in Oberhausen. © Gerd Wallhorn

Ich habe dafür gekämpft, dass von der Regionalförderung auch künftig alle Regionen profitieren können. Mir ist es wichtig, dass Gelder ins Ruhrgebiet fließen und in zukunftsträchtige Innovationen investiert werden – in erneuerbare Energien, in umweltfreundliche Mobilität. Durch den Brexit ist der Kuchen aber kleiner geworden. Ich will mich aber dafür einsetzen, dass die Regionen mit hohen Herausforderungen stärker von den Regionalmitteln profitieren.

„Jahrelang gab es eine Kultur des Schweigens“

Der Kurs der Grünen, aus der Kohle zügig auszusteigen, kostet im Ruhrgebiet Tausende Arbeitsplätze in den Kohlekraftwerken – und der Strom vieler Bürger wird teurer. Was sagen Sie den normalverdienenden Menschen ihrer Region?

Natürlich muss die Energiewende sozialverträglich organisiert werden.Wir müssen über die EU-Regionalförderung Beschäftigte qualifizieren, die wegen der Energiewende ihren Arbeitsplatz verlieren. Aber wir müssen insgesamt die soziale Lage der Menschen in Europa verbessern, denn am Ende ist Energie-Armut, also Armut durch hohe Energiepreise, reine Armut. Wir müssen mehr dafür tun, dass der Lohn für Beschäftigte ausreichend hoch ist, dass sie damit ihre Grundbedürfnisse, wie Wohnen, Lebensmittel, Heizung und Strom, gut bezahlen können.

Sie haben sich stark in die Metoo-Debatte eingemischt. Wie sexuell übergriffig geht es denn in Brüssel und in Straßburg zu?

Im Zuge der Metoo-Debatte haben wir Berichte über sexuelle Belästigungen auch im Europaparlament erhalten. An allen Orten, an denen es ein Machtgefälle gibt, haben wir ein Riesenproblem damit. Jahrelang hat es eine Kultur des Schweigens gegeben. Deshalb haben wir einen Maßnahmenkatalog für das Parlament mit großer Mehrheit beschlossen – die müssen wir jetzt umsetzen. Schließlich haben wir eine Vorbildfunktion.

Unter sexueller Belästigung kann man eine ganze Bandbreite verstehen: Sind das nur unangenehme Witzeleien gewesen oder kam es zu handfesten Übergriffen?

Uns wurden sehr verschiedene Formen berichtet – von ungewollten Berührungen bis hin zu der Masturbation eines Abgeordneten vor seinen Mitarbeiterinnen und sogar einer Vergewaltigung. Da sind sehr dramatische schwerwiegende Dinge passiert. Das ist unfassbar. Nur weil ich in einer Machtposition bin als Abgeordneter, kann es nicht sein, dass dieser einfach so davonkommen kann.

„Ich bin eine nahbare Abgeordnete“

Die Zeitumstellung wird nun abgeschafft. Sind Sie für die dauerhafte Winterzeit in Deutschland oder für die andauernde Sommerzeit?

Wir sind da gerade in einem Klärungsprozess. Es kann natürlich nicht sein, dass am Ende eine andere Zeit in Belgien, Niederlanden oder Deutschland herrscht – wir benötigen von der Kommission eine koordinierte Entscheidung als Lösung für alle. Wir sind eine politische und wirtschaftliche Union, die keinen Flickenteppich an Zeitzonen haben sollte. Ich persönlich habe aber keine Präferenz für eine dauerhafte Sommer- oder Winterzeit. Die Mehrheit meiner Fraktion war jedenfalls für die Abschaffung der Zeitumstellung.

Warum besuchen Sie eigentlich Oberhausen so selten – und jetzt nur wegen des Europawahlkampfes. Gibt es in Brüssel und Straßburg so viel zu tun?

Ich habe sogar eine Zeit lang in Oberhausen gelebt und würde gerne viel häufiger hierhin kommen, weil ich Oberhausen sehr mag. Im Vergleich zu Bundestagsabgeordneten haben wir viel weniger sitzungsfreie Wochen und betreuen dazu noch viel größere Regionen. Aber ich war in den letzten Jahren durchaus häufiger in Oberhausen, weil ich direkt vor Ort mitbekommen will, was die Bürger bewegt. Es besteht die Gefahr, dass man immer fachidiotischer wird, weil wir uns vielen spezialisierten Fachthemen widmen müssen, um gute Gesetze zu machen. Ich bin aber eine nahbare Abgeordnete, die man per Mail oder über soziale Medien erreichen kann.

>>>> Grüne wählten Reintke auf guten Listenplatz 3

Terry Reintke, 31 Jahre alt, ist in Gelsenkirchen aufgewachsen. Sie studierte Politikwissenschaften in Berlin und Edinburgh. Schon früh, seit 2004, engagierte sie sich für die Grüne Jugend. Die Jusos fand sie damals als Jugendorganisation der eher strukturkonservativen Ruhrgebiets-SPD zu behäbig.

Angesichts des Höhenflugs der Grünen ist Reintke mit ihrem Listenplatz 3 wohl so gut wie sicher im neuen Europaparlament.

Auf der EU-Ebene hat sie sich intensiv mit der Beschäftigungsproblematik beschäftigt: hohe Jugendarbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse.