Oberhausen. . Die Kurzfilmtage widmen dem russischen „Maler mit der Kamera“ ein großes Programm-Profil. Fünfeinhalb Filmstunden erzählen vom Afghanistan-Krieg.
Gleich zwei Teilnehmer der kommenden Kunst-Biennale von Venedig zählen zu den Gästen der Internationalen Kurzfilmtage vom 1. bis 6. Mai: Die Griechin Eva Stefani, bekannt als Dokumentarfilmerin, kuratiert im Herbst den Pavillon ihres Landes in den Giardini. Der Russe Alexander Sokurov war schon vor zwölf und erneut vor acht Jahren in Venedig mit Goldlöwen der Filmfestspiele ausgezeichnet worden – und wird nach seiner Visite in Oberhausen den russischen Biennale-Pavillon bespielen.
Eine unverwechselbare Filmsprache
Der 67-Jährige aus dem sibirischen Irkutsk zählt – beileibe nicht nur auf der Kurzfilmstrecke – zu den einflussreichsten Regisseuren der Gegenwart. Seit 1978 produziert Alexander Sokurov vielfach preisgekrönte Dokumentar- und Spielfilme. Internationales Aufsehen erregte er 1990 mit „Soviet Elegy“, für den er den Großen Preis der Kurzfilmtage gewann. Einen zweiten Großen Preis gewann er in Oberhausen 1996 für „Oriental Elegy“, einen Hauptpreis 1997 für „Robert – a Fortunate Life“.
Nun bieten die Kurzfilmtage in einem großen Profil die seltene Gelegenheit, sein umfangreiches frühes Kurzfilmschaffen zu sehen, angefangen mit dem Dokumentarfilm „Maria“, dessen ersten Teil er 1977 drehte. Alexander Sokurov wird seine Filme in Oberhausen selbst vorstellen und eine Masterclass für Filmstudierende geben.
In seinen kurzen Filmen ebenso wie in Langfilmen wie „Moloch“ (1999), „Russian Ark“ (2002) oder „Faust“ (2011), für den er 2011 den Goldenen Löwen in Venedig gewann, entwickelt Alexander Sokurov seit 40 Jahren seine unverwechselbare Filmsprache aus großen Bildern in langen Einstellungen. 2017 wurde der „Maler mit der Kamera“ von der Europäischen Filmakademie für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
Seine Filme sind geprägt vom virtuosen Einsatz seiner eigenen Stimme und von der Verwendung vorgefundenen Materials. Die von ihm vorgestellten Menschen zeigen intensive Präsenz: sei es die Kolchosbäuerin Maria Voinova, der Opernsänger Fjodor Schaljapin, der zurückgetretene Kandidat für das Politbüro Boris Jelzin oder der namenlose Soldat, der schläft. Kunstvoll hegt der poetische Dokumentarist seine Figuren in größere Kontexte ein, in Familie, Zeitgeschichte und Gesellschaft.
Der Offizierssohn Sokurov begann 1968 in Nischni Nowgorod an der Wolga ein Geschichtsstudium und arbeitete als Regieassistent für das Fernsehen. Mit 19 produzierte er seine ersten dokumentarischen TV-Sendungen. Seit 1975 studierte Sokurov am Moskauer Staatsinstitut für Filmografie und erhielt ein Stipendium für herausragende Leistungen. Sein Abschlussfilm 1979 „The Lonely Voice of a Man“ allerdings wurde wegen „anti-sowjetischer Ansichten“ nicht anerkannt.
Meditation über Russland im Krieg
Unterstützung fand der damals 27-Jährige bei „Solaris“-Regisseur Andrei Tarkowski (1932 bis 1986), mit dem ihn eine längere Freundschaft verbinden sollte, und der ihm ein Empfehlungsschreiben für das Lenfilm-Studio gab. Dort drehte Sokurov in den 1980ern seine ersten Spielfilme und arbeitete gleichzeitig in St. Petersburg als Dokumentarfilmer. Öffentlich gezeigt wurden Sokurovs Filme in seiner Heimat erst mit der Wende in Osteuropa.
Während der gesamten sechs Festivaltage läuft in der Lichtburg Alexander Sokurovs in jeder Hinsicht größtes Werk von 1994: das fünfeinhalbstündige Dokumentar-Epos „Spiritual Voices – from the Diaries of a War“. Der Filmemacher begleitete russische Truppen an der Grenze von Afghanistan und Tadschikistan. Seine Meditation über Russland im Krieg zeigt betörende Landschaftsbilder zu Musik von Mozart, Messiaen und Beethoven. Kombiniert mit dem Jargon der Soldaten, Tiergeräuschen und irritierenden Klang- und Bild-Effekten im Frühnebel gewinnen diese „Geisterstimmen“ eine unwirkliche Aura.
>>> Rasante Tour durch „Geisterstadt“ Athen
„Diese zeitgenössische Fabel findet einen einzigartigen Weg, Archivmaterial und subtilen poetischen Witz zu verbinden.“ So begründete die Jury des Internationalen Wettbewerbs der 2018er Kurzfilmtage den Hauptpreis für Eva Stefanis elfminütiges Werk „Manuskript“.
Ein Jahr später gestaltet die 55-jährige Athenerin – als zweiter Gast der kommenden Kurzfilmtage bei der Biennale von Venedig – den griechischen Pavillon in den Giardini. Entstanden war das preisgekrönte „Manuskript“ – eine rasante Tour durchs nächtliche Athen – als Auftragsarbeit für jene Documenta 14, die mit ihrer „Filiale“ in der griechischen Metropole für ein finanzielles Debakel des Kasseler Weltkunsttreffens gesorgt hatte. An elf Kurzfilmminuten kann’s aber nicht gelegen haben – denn die Dokumentarfilmerin macht seit 30 Jahren ganz viel aus geringen Ressourcen.
Eva Stefani nennt das Athen der Rezession „eine Geisterstadt, die immer noch Romantik verströmt“. Im Interview für das Goethe-Institut spricht sie über die Kurzfilmtage: „Ich hatte den Eindruck, dass das Festival den Geist einer wahrhaften Avantgarde aufrecht erhält. Es fördert nicht Augenschein und Luxus, sondern eine innovative Filmsprache und persönliche Vision.“