Oberhausen. . Fotoalbum dokumentiert, akribisch beschriftet, die Luftangriffe auf Oberhausen. Die Gedenkhalle erwarb das Unikat mit fast 200 Fotografien.

Die Reise nach London hätte sich gelohnt, denn „Peter Harrington Rare Books“ residiert im noblen Chelsea und dürfte mit seinem blanken Parkett, schweren Tischen und vielen gut gefüllten Regalmetern zu den elegantesten Buchhandlungen der englischen Metropole zählen. Clemens Heinrichs ließ sich allerdings das Objekt seiner Wünsche per Post nach Oberhausen schicken – Porto war schließlich der kleinste Posten für die Ausgabe von 2000 Euro. Dieses Album ist keine Rarität, sondern ein Unikat. Es birgt einen Schatz von Informationen für die zeitgeschichtliche Forschung – und ein großes Rätsel.

„Da steckt noch eine Menge Arbeit drin“, weiß der Leiter der Gedenkhalle. In Frakturschrift, mit Prägung und über einer stilisierten Stadtsilhouette steht auf dem Titelblatt „Schadenstellen im LS-Ort Oberhausen/Rhld. mit Mülheim a. d. Ruhr“. Aufs Vorsatzblatt des Albums mit fast 200 Fotografien hat eine andere – nicht annähernd so akkurate – Handschrift schlicht „The Ruhr“ notiert.

Bild Nr. 90 zeigt ein Wahrzeichen der Stadt in Trümmern: Im Juni 1942 trafen Bomben das Rathaus an der Schwartzstraße.
Bild Nr. 90 zeigt ein Wahrzeichen der Stadt in Trümmern: Im Juni 1942 trafen Bomben das Rathaus an der Schwartzstraße. © Kerstin Bögeholz

„Wie es in britische Hände kam, weiß niemand“, sagt Clemens Heinrichs.

Der Tipp, dass in Peter Harringtons üppigem Internet-Katalog auch ein großer Bilder-Band mit Weltkriegs-Aufnahmen aus Oberhausen inseriert sei, kam aus den Niederlanden. Die Gedenkhalle bereitet nämlich für August die Publikation der Erinnerungen von Andries Ter Brugge vor. Der heute 94-Jährige lebte zwei Jahre als Zwangsarbeiter in Oberhausen – und hatte schon 1947 für seine Familie seine Erinnerungen an diese Zeit aufgeschrieben. Als Zeitzeuge hatte er noch vor einigen Jahren vor Schulklassen gesprochen.

Knappeninitiative gab 500 Euro dazu

Zurück zum geheimnisvollen Album: Acht Fotos hatte Harrington bereits online präsentiert, 20 weitere durfte der Leiter der Gedenkhalle sich vorab anschauen – dann war die Kaufentscheidung fällig. Sie fiel etwas leichter, weil die Knappeninitiative, die sich auch als Patron des Bunkermuseums sieht, 500 Euro dazugab. Und weil das Album eine einzigartige Bedeutung hat.

Man kennt Aufnahmen der Kriegszerstörungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, erklärt Heinrichs, und jene aus den Kanzeln der britischen Bomber: „Die Alliierten fotografierten von weit oben.“ Doch wer machte Aufnahmen wenige Tage oder nur Stunden nach den Luftangriffen?

zerstörte Gastwirtschaft „Jägerkrug“ und das beschädigte St. Josefs-Hospital. Der Chronist nennt „vier Gefallene“.
zerstörte Gastwirtschaft „Jägerkrug“ und das beschädigte St. Josefs-Hospital. Der Chronist nennt „vier Gefallene“. © Kerstin Bögeholz

„Der Urheber ist nirgends genannt“, so Clemens Heinrichs. Er vermutet ihn aber in einer Institution des Luftschutzes. Schließlich hätte nicht irgendwer allerorten in Oberhausen die Zerstörungen fotografieren dürfen – und der Unbekannte ließ nichts aus. Er stieg in den Turm der ausgebrannten Herz-Jesu-Kirche. Er fotografierte, als Suchtrupps die Leichen Verschütteter bargen. Er stellte Uniformierte als „Maßstab“ in besonders große Bombentrichter.

160 Luftangriffe auf Oberhausen

„Ich kenne nichts Vergleichbares“: Der Chef der Gedenkhalle staunt und blättert weiter. Alle Fotos sind penibel beschriftet. Auch die Treffer auf die NSDAP-Kreisleitung und die Wehrbezirks-Kommandantur sind dokumentiert. Es gab 160 Luftangriffe auf Oberhausen im Zweiten Weltkrieg. Das Album hat längst nicht alle erfasst – ist aber doch in seiner Fülle und Präzision bemerkenswert.

Als erste Ausbeute aus diesem Schatz kündigt Clemens Heinrichs großformatige Abzüge für das Bunkermuseum an, denen er Bilder aus Coventry, Rotterdam und Warschau gegenüberstellen will: zur Eröffnung der überarbeiteten Ausstellung im September, am 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen.

Erste Adresse der Stadt: „Peter Harrington Rare Books“

Der 2003 verstorbene Peter Harrington war nicht irgendein antiquarischer Buchhändler – auch wenn er vor 50 Jahren wie viele andere begonnen hatte: mit einem Stand auf dem berühmten Antiquitäten-Markt an der King’s Road in Chelsea.

Der findige Antiquar – und in seiner Nachfolge sein Sohn Pom Harrington – handelte mit Kostbarkeiten des Buchdrucks und selbst mit Inkunabeln aus dem 15. Jahrhundert. Die erste Folio-Edition von Shakespeares Dramen von 1623 ging ebenso über Harringtons Ladentisch wie ein prächtiger Privatdruck von James Joyces „Ulysses“ oder das Kartenwerk samt Reisebericht, anno 1613, von Samuel de Champlain, dem Entdecker Kanadas und Gründer von Québec.

Auf vier Etagen bietet Harrington mehr als 20.000 Bücher und 6000 grafische Arbeiten auf Papier, denn auch die „Old Church Galleries“ hat der Buchhändler vereinnahmt. Und eine eigene Buchbinderei fertigt neue Einbände und Schuber für jene Raritäten, die nicht mehr so gut erhalten sind wie das Album, das jetzt nach Oberhausen zurückgekehrt ist.