Oberhausen. Menschen, die im Einzelhandel arbeiten, und ein Vertreter der Gewerkschaft Verdi kritisieren die oft harten Arbeitsbedingungen in der Branche.

Im Einzelhandel bläst Beschäftigten ein rauer Wind entgegen. Mitarbeiter berichten von unhaltbaren Arbeitsbedingungen. Kay Lipka vom Verdi-Bezirk Ruhr-West hat sogar viele Beschäftigte kennengelernt, die der Job körperlich und psychisch ausgelaugt hat – und die einen großen Teil ihrer Lebensfreude verloren haben. André Heistermann dagegen, Geschäftsführer vom Handelsverband Ruhr, nimmt die Einzelhändler in Schutz. Er kenne Arbeitgeber, denen das Wohl ihrer Mitarbeiter wichtig sei. Mitarbeiter, die sich wohl fühlten, zögen auch Kunden an.

Der Gewerkschafter, aber auch Betroffene berichten von ihren teils haarsträubenden Erlebnissen in der Branche. Die Misere habe 2006 begonnen, meinen sie. Als das Ladenschlussgesetz von der Bundes- zur Ländersache und die Ladenöffnungszeiten gelockert wurden, sollte eigentlich mehr Personal eingestellt werden. „Doch seither wurden seither enorm viele Arbeitsplätze abgebaut“, beobachtet Lipka. Heistermann sieht auch das anders: „Es werden doch ständig neue Stellen geschaffen.“

Keine Rücksicht auf Familien

Lipka kritisiert die hohe Quote an Teilzeitkräften in der Branche. „Im Handel arbeiten so viele Leute nur auf Teilzeit, nicht weil sie es wollen, sondern es für die Arbeitgeber besser ist.“ Zwei billige 450-Euro-Kräfte schafften mehr als eine teure Vollzeitkraft. Falle ein Mitarbeiter aus, sei immer noch einer da. Was den Verdienst angeht, sind aber auch die Vollzeitkräfte nicht auf Rosen gebettet. Sie verdienen in einem tarifgebundenen Betrieb bei 37,5 Wochenstunden 2471 Euro brutto. Nur wenige Unternehmen seien tarifgebunden. Bei den übrigen liege der Lohn bei ca. 1800 Euro brutto (40-Stunden-Woche). Heistermann hält diesem Vorwurf entgegen: „Manches nicht tarifgebundene Unternehmen zahlt dennoch Tariflöhne.“

Mitarbeiter im Einzelhandel haben es oft nicht leicht.
Mitarbeiter im Einzelhandel haben es oft nicht leicht. © Fabian Strauch

Auf jeden Fall gelten die Arbeitszeiten im Handel als äußerst familienunfreundlich. Als katastrophal bezeichnet Lipka die Personaleinsatzplanung in vielen Geschäften. „Die Mitarbeiter wissen häufig am Freitag noch nicht, wann sie am Montag arbeiten müssen“, sagt er. Und wehe, ein Paar, das im Einzelhandel arbeitet, bekomme Nachwuchs. Geregelte Arbeitszeiten, damit eine Betreuung des Kindes gewährleistet sei, gibt es häufig nicht.

Ein weiterer Kritikpunkt: Arbeiteten früher in den Branchen speziell ausgebildete Fachkräfte, ist das heute kaum noch der Fall. Der Gewerkschafter: „Die Arbeitgeber haben eine anspruchsvolle Aufgabe so zersplittert, dass jeder sie erledigen kann.“ Das heißt, jeder Mitarbeiter hat nur einen speziellen Aufgabenbereich.

Und: Der Druck auf die Menschen ist groß. „Es gibt Unternehmen, da kann man nicht mehr von Klima reden“, sagt Lipka. Die Ursache sieht er in einer zu großen Verkaufsfläche für den normalen Konsum. Ein für das Personal schädlicher Kampf um jeden Kunden sei entbrannt.

Verdi-Gewerkschafter Kay Lipka hält die aktuellen Bedingungen im Einzelhandel also für unhaltbar. Hier nun Stimmen von Betroffenen, die aus Angst um ihren Arbeitsplatz anonym bleiben möchten.

„Wir bekommen nie Lob, nur negatives Feedback“

„Das Schlimmste im Einzelhandel ist der ungeheure Druck. Wir bekommen nie Lob, nur negatives Feedback.“

„Wer seinen Job nur gut macht, ist verzichtbar“

„Mein Unternehmen arbeitet in den ersten drei Jahren mit Jahresverträgen. Nach drei Jahren müssen Mitarbeiter angestellt werden. Es wird weit überdurchschnittlich großes Engagement erwartet. Ein normaler Mitarbeiter, der seinen Job gut macht, fleißig ist, kaum oder nie krank, gilt bei den oberen Leuten als ersetzbar.

„Wir dürfen in unserem Laden keinePause machen“

„Ich arbeite in einem Familienbetrieb. Wir stehen sieben bis neun Stunden an der Kasse. Hinsetzen dürfen wir uns nicht. Wir dürfen in unserem Laden keine Pause machen. In unserem Bereich gib es keine Toilette, kein Waschbecken.“

„Eigene Ideen gelten regelrecht als Systemkritik“

„Der Einzelhandel lebt von Teilzeitkräften und Studenten. Die Mitarbeiter brauchen keine Ausbildung mehr. Selbst für den Storemanager reichen drei Jahre Berufserfahrung. Häufig gibt es eine Aufgabenteilung von der Begrüßung am Eingang bis zur Kasse. Seinen Platz darf man nicht verlassen. Eigene Ideen sind nicht erwünscht, sie gelten als Kritik am System.“

„Würde ich zu Toilette gehen, bekäme ich Ärger“

„Ich arbeite meist alleine. Um zur Toilette zu gehen, müsste ich den Laden abschließen. Das ginge theoretisch, aber ich würde einen Riesenärger bekommen.“

„Etwas zu trinken, ist schwierig für die Mitarbeiter“

„Trinken darf man offiziell etwas während der Arbeitszeit. Praktisch ist das bei ständigem Kontakt mit Kunden schwierig.“

„Kranke Mitarbeiterin bekommt Ärger mit der Chefin“

„In dem Bereich, in dem ich arbeite, gibt es keinen einzigen Stuhl. Als einer Kollegin einmal schwindelig und übel wurde und sie sich hinsetzen musste, hat sie Ärger mit der Chefin bekommen. ‘Wer solche gesundheitlichen Probleme hat, muss sich was anderes suchen’, hat die Frau zu der kranken Mitarbeiterin gesagt.“

Hier, Du Sau, wisch das ab und füll die Regale auf“

Lipka berichtet von einem ähnlichen Vorfall in einem Discounter. Eine junge Mitarbeiter bekam heftiges Nasenbluten. Sie hatte Panik, dass es etwas Schlimmeres sein könne. „Die Chefin war der Angestellten einen Lappen hin mit der Bemerkung ‘hier du Sau, wisch das weg und dann füll die Regale auf.“

„Arbeitgeber werfen Krankenscheine einfach weg“

Lipka weiß auch, dass sich viele Mitarbeiter krank zur Arbeit schleppen aus Angst vor Repressalien. Er hat Fälle erlebt, in denen Arbeitgeber Krankenscheine von Arbeitnehmern weggeworfen oder für die Krankheit einfach freie Tage oder auch Urlaub angerechnet haben.

„Zahlen gibt es für alle möglichen Bereiche“

„Als studentische Aushilfskraft übernehme ich die Aufgaben des Storemanagers, wenn der nicht im Haus ist. Ich bekomme genauso Ärger wie dieser, wenn die Zahlen nicht stimmen und genauso kein Lob, wenn alles toll ist. Zahlen gibt es zu allen möglichen Bereichen. Wie viele Kunden kommen rein, wie viele kaufen etwas, wie viele kaufen reduzierte Ware?“

„Das deckenhohe Regal ist umgekippt, ich lag darunter“

„Die Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz sind schlecht. Kaputte Leitern, fehlende Handschuhe, etwa fürs Einräumen eines neuen Ladens. Einmal bin ich wegen einer fehlenden Leiter an einem deckenhohen Regal mit Ware hochgeklettert. Das Regal ist umgekippt, ich lag darunter. Zum Glück ist nichts passiert.“

„App-Inhalt muss drei Stunden studiert werden“

„Wir müssen auch in unserer Freizeit ständig verfügbar sein. Es könnte ja immer mal was sein. Zuhause dürfen wir auch Schulungsmaterial durcharbeiten. Eine App liefert neue Infos. Zwei bis drei Stunden die Woche sollte man diese daheim studieren, sonst gibt es Ärger.“

„Selbst sollte man möglichst viele Produkte kaufen“

„In vielen Geschäften wird erwartet, dass die Angestellten selbst viel dort einkaufen. Weil man sich dann mit dem Produkt identifiziert, heißt es. Ich habe es schon erlebt, dass Kollegen Ärger bekommen haben oder ihre Arbeitsverträge nicht verlängert wurden, weil sie zu wenig gekauft hatten.“

„Es gab viele Ladendiebe und Leute, die sich prügeln“

„Ich arbeite aus Sicherheitsgründen lieber in Einkaufszentren als in Geschäften an der Straße. Außerhalb der Zentren musste ich oft Prediger oder Obdachlose rauswerfen, die schimpften, wenn sie kein Geld bekamen. Es gab viele Ladendiebe und Leute, die sich draußen vor der Tür prügeln.“

„Chefs von Discountern räumen sonntags auf“

„Nach einer Inventur haben wir Ärger bekommen, weil so viel gestohlen worden war. Aber Kameras waren dem Unternehmen zu teuer.“ Der Gewerkschafter Lipka weiß von Chefs von Discountern, die sonntags mit ihrer Familie den Laden aufräumen, weil im Arbeitsalltag dafür keine Zeit bleibt.

>>>INFO: Kontaktdaten zur Gewerkschaft Verdi

Wer Verdi-Mitglied werden möchte: www.mitgliedwerden.verdi.de. Wer schlechte Erfahrungen im Einzelhandel macht, sollte sich melden. Informationen gibt es bei: Verdi-Direkt unter der Telefonnummer 0800-8373-433 – immer montags bis freitags von 7 bis 20 Uhr, samstags 9 bis 16 Uhr.