Wie steht es um den Industrie-Standort Ruhrgebiet? Ronald Seidelman, Geschäftsführer von GHH Radsatz in Oberhausen, bewertet die Region.
Herr Seidelman, Sie engagieren sich sehr für den beruflichen Nachwuchs, Sie laden Schulklassen in Ihr Werk ein und unterstützen Studenten der Hochschule Ruhr-West. Hat denn der Industriestandort Oberhausen überhaupt eine Zukunft?
Ja. Wenn ich daran nicht glauben würde, wäre ich hier fehl am Platz. Aber ich verstehe, worauf Sie hinauswollen: Unser Unternehmen gehört einer tschechischen Gruppe. Da kommt selbstverständlich die Frage auf: Warum verlagern wir die Produktion nicht nach Tschechien? Es gebe handfeste Gründe, so etwas zu machen.
Kostengründe?
Ja, hauptsächlich. Man könnte durch eine Verlagerung aber auch das Know-how bündeln und Synergie-Effekte nutzen.
Sie bleiben dennoch in Oberhausen?
Die meisten Produkte könnten wir ohne weiteres nach Tschechien verlagern. Wir würden sogar eine EU-Förderung aus Brüssel dafür bekommen. Aber: Sowohl der tschechische Eigentümer als auch die Geschäftsführung vor Ort bekennen sich zum Standort in Oberhausen. Wir haben 5,6 Millionen Euro in eine neue Werkshalle investiert, wir haben gerade unser Budget neu aufgelegt, den neuen Business-Plan für die kommenden fünf Jahre sollten wir bis zum Sommer aufgestellt haben. Wir planen Investitionen, wir möchten mindestens eine Großmaschine pro Jahr austauschen. Um einen Größenordnung zu nennen: Diese Maschinen kosten rund eine Million Euro. So viel Geld nimmt man nicht in die Hand, wenn man den Standort verlassen möchte.
Sind Sie denn auch mit dem Geschäft in Oberhausen zufrieden?
Wir hatten in den vergangenen zwei bis drei Jahren eine Talsohle zu durchgehen. Ich will nicht sagen, wir mussten durch ein Tal der Tränen gehen, aber die Zeit war sub-optimal für uns. Wir haben schon bessere Zeiten bei Auftragseingängen und Umsätzen erlebt. Aber wichtig ist: Wir planen langfristig, durch schwere Zeiten muss man durch, irgendwann wird es auch wieder besser. Man muss seine Personalpolitik vielleicht anders ausrichten, seine Investitionsstrategie und auch die Beziehung zu seinen Kunden. Man muss am Ball bleiben, Messen besuchen, den Kontakt zu Kunden halten, auch wenn nicht sofort Aufträge zu erwarten sind. Am Ende zahlt es sich aus: Noch in diesem Monat erwarten wir einen neuen Großauftrag.
Ist das einer besonderen Strategie zu verdanken? Oder wie haben Sie die Durststrecke überwunden?
Das Problem ist, dass sich der Markt drastisch gewandelt hat. Wir müssen immer die Augen aufhalten. Wir sehen Globalisierung auf der einen Seite, Protektionismus auf der anderen Seite. Darauf muss man reagieren, wenn man, wie wir in Deutschland, sehr exportorientiert arbeitet. Auch der Markt beim Neubau hat sich gewandelt. Früher, vor 15 bis 20 Jahren, hatten wir einen Umsatzanteil von 50 bis 60 Prozent beim Neubau. Im vergangenen Jahr waren es 34 Prozent beim Umsatz und 26 Prozent beim Auftragseingang. Der Markt hat sich derzeit in Richtung Ersatzteilgeschäft und Service verschoben. Wir haben reagiert, den Service-Bereich ausgebaut, eine neue Abteilung aufgebaut. So konnten wir hierfür in den vergangenen Monaten sehr attraktive Aufträge gewinnen.
Wie sieht die Konkurrenz auf dem Markt aus?
Auch hier gibt es Verschiebungen. Anbieter aus Fernost drängen auf den Markt, Japaner und Chinesen, aber auch Ukrainer zum Beispiel, die bereits einen deutschen und einen französischen Mitbewerber übernommen haben. Nicht alle diese Konkurrenten folgen unbedingt den üblichen Marktregeln, es geht ihnen teilweise hauptsächlich um Wachstum, um den Gewinn von Marktanteilen. Egal, zu welchem Preis. Da müssen wir gegen ankämpfen. Ich wurde mal gefragt, warum ich es den Japanern und Chinesen nicht gleich tue. Aber ich bin davon überzeugt, dass unsere Strategie richtig ist.
Wie haben Sie auf die Konkurrenz aus Fernost reagiert?
Wir haben unter anderem mittlerweile wöchentlich eine Sitzung mit dem Betriebsrat. Wir wollen den Standort sichern. Und wir wollen unsere Arbeitsplätze hier vor Ort sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns aber Neuem öffnen: Wir beziehen einen gewissen Teil unserer Radsatz-Komponenten mittlerweile von „low-cost-supplieren“ aus dem In- wie auch Ausland. Sie werden eingekauft und hier in Oberhausen weiter verarbeitet.
Haben Sie Kunden an die Konkurrenz verloren?
Ja, das haben wir. Wir haben aber mittlerweile auch wieder welche zurückgewonnen. Mancher Kunde hat im Ausland gekauft, weil es billiger war. Jetzt hat er festgestellt: Die Qualität stimmt nicht. Er kommt zu uns zurück, weil er von unserer Leistung und von unserer Qualität überzeugt ist. Gute Kundenorientierung von der Auftragsvergabe bis zum Betrieb wird von einigen Kunden als Zusatzleistung honoriert.
Wie haben Sie das geschafft?
Wir haben nicht locker gelassen. Wir haben den Kontakt zu unseren Kunden gehalten, auch wenn sie im Ausland gekauft haben. Ein Beispiel: Eine Verkehrsgesellschaft aus Belgien hatten wir als Kunden verloren. Dieser Betreiber ist über die Dörfer gezogen und hat eingekauft, wo es am günstigsten war. Dann gab es Probleme mit Radreifenbrüchen und Entgleisungen von Straßenbahnen. Wir waren vor Ort und haben uns gekümmert, haben Ursachen analysiert. Gemusst hätten wir das nicht, denn die fehlerhaften Produkte stammten ja nicht von uns. Aber wir hatten Erfolg: Der Kunde ist zu uns zurückgekehrt. Da steckt ein riesiges Volumen hinter. Unser Motto ist und bleibt: nie aufgeben!
Die Zukunft bleibt also spannend.
Den Begriff „spannend“ mag ich überhaupt nicht. Spannung ist etwas anderes. Es ist eine sehr unsichere Zeit, die auf uns zukommt. Und es wird immer unsicherer. Aber wir sollten keine Angst haben.Wir haben es immer geschafft. Ich erinnere mich, als es hieß, die Japaner übernehmen den Markt mit weißer Ware, also Waschmaschinen, Kühlschränke, usw. Jeder war der Meinung, das wäre das Ende von Deutschland, deutsche Unternehmen wie Siemens oder Bosch werden untergehen. Aber es ging weiter. Man muss neue Ansätze finden, sich neu ausrichten. Nur aussitzen darf man Probleme nicht, und auch nichts überstürzen, sonst passiert etwas wie in den USA: Unternehmen kaufen Fabrikhallen und heuern Leute an. Aber nur für ein bestimmtes Projekt. Dann ziehen sie weiter. Das ist schockierend. Das darf bei uns nicht geschehen.
Das Werk von GHH Rand in Oberhausen steht vor dem Aus. Hat Sie diese Nachricht überrascht?
Um ehrlich zu sein: Es war für mich ein Schock. Rand war einmal Teil von MAN beziehungsweise GHH. Ich bin seit mehr als 30 Jahren im Unternehmen, ich kenne Kollegen, die jetzt bei Rand sind, persönlich. Das ist ein schwerer Schlag.
Es ist zu befürchten, dass Industrie-Arbeitsplätze, wenn sie wegfallen, dauerhaft fehlen werden.
Ich glaube immer noch an die Industrie. Aber ich glaube auch, dass die Industrie vernachlässigt wird. Eine Region kann nicht nur vom Handel leben. Stadt, Land und Bund sind hier in der Pflicht. Sehen wir uns zum Beispiel mal die unterschiedlichen Steuersätze an: In Oberhausen zahlen wir 36,4 Prozent auf unser Ergebnis, Körperschaftssteuer und Gewerbesteuer. Bei unserer tschechischen Mutter sind es 19 Prozent. Sehen wir uns die Löhne und Gehälter an: Sie betragen in Tschechien rund ein Drittel von dem, was wir in Deutschland zahlen. Und die Schere geht immer weiter auseinander.
Wie kann man dem begegnen?
Indem wir uns auf unsere Stärken besinnen: Unser Bildungssystem ist gut. Aber wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, sondern müssen noch mehr in die Bildung investieren. Wir brauchen mehr Lehrer, wir müssen das Bildungsniveau erhöhen. Wir haben eine hohe Dichte an Hochschulen in der Region. Das ist toll, das ist ein Trumpf, das ist wunderbar. Aber auch hier muss es weiter gehen: Wir müssen die Studenten langfristig an unsere Region binden. Wir können sie nicht ausbilden und sie dann in andere Regionen Deutschlands ziehen lassen, weil sie dort mehr Geld verdienen oder das Umfeld attraktiver ist. Unsere Auszubildenden lernen dreieinhalb Jahre. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr lange. Und das ist gut. Ich sehe es doch im Ausland: Dort müssen wir den Mitarbeitern jeden Arbeitsschritt erklären. In Deutschland geben wir ihnen eine Zeichnung und sie setzen die Pläne zu unserer vollsten Zufriedenheit um. Dieses Niveau müssen wir unbedingt halten.
Das Potenzial ist also da?
Auf jeden Fall! Es heißt immer: Deutschland – das Land der Dichter und Denker. Aber Deutschland ist auch eine Wiege der Industrie. Besonders das Ruhrgebiet. Ich rede nicht nur vom Bergbau, ich rede auch von der Stahlerzeugung, von der Stahlverarbeitung. Dieses Wissen ist immer noch da. Auch die Identifikation der Mitarbeiter mit der Region, mit dem Unternehmen. Da spüre ich noch immer eine Verbundenheit, die Einstellung zur Arbeit ist in Deutschland eine ganz andere als im Ausland. Mit diesen konservativen Werten müssen wir punkten.
Aber die Region hat doch auch Schwachstellen.
Ja, natürlich. Wir erleben im Ruhrgebiet gerade einen Verkehrsinfarkt. Wir fordern von unseren Mitarbeitern Beweglichkeit und eine hohe Flexibilität. Aber dann müssen wir auch dafür sorgen, dass sie mobil sind, dass sie auch von weiter weg schnell zum Arbeitsplatz kommen. Wir müssen dringend in den öffentlichen Nahverkehr investieren. Ich habe gerade erst einen Ingenieur verloren. Er hat gekündigt, weil die tägliche Fahrt von Köln nach Oberhausen mit den Jahren immer länger gedauert hat.
Das Interview mit GHH-Radsatz-Chef Ronald Seidelman führte Nadine Gewehr.
>>>>INFO: Seit 1986 bei GHH Radsatz tätig
Schon 1808 fertigten Arbeiter der Antony-Hütte die ersten Radsätze. 1873 wurde die Gutehoffnungshütte (GHH) gegründet, die 1899 in die Radsatz-Produktion einstieg. 1994 wurde die GHH Radsatz GmbH gegründet, die 2014 von der tschechischen Bonatrans-Gruppe übernommen wurde. Seitdem firmiert der Betrieb unter GHH-Bonatrans. Jahresumsatz: ca. 80 Millionen Euro. Ronald Seidelman wurde am 11. November 1957 in New York City geboren. Nach dem Tod des Vaters ist seine aus Deutschland stammende Mutter mit den Kindern nach Deutschland zurückgekehrt. Nach dem Abitur und dem Maschinenbau-Studium begann er am 1. Oktober 1986 seine Karriere bei der GHH. Seit dem 1. April 1991 ist er im Bereich der Bahnindustrie tätig, seit Oktober 2009 als Geschäftsführer.
Das Gespräch mit Ronald Seidelman führte Nadine Gewehr