Oberhausen. Sexualität bei schwerer Erkrankung ist das Normalste von der Welt. Ab 12. September schaltet das Oberhausener Palliativnetz ein Beratungstelefon.
- Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit gehört bis ins hohe Alter zum Menschen
- Palliativnetz Oberhausen holt Tabuthema aus der Schmuddelecke
- Aufklärung auch über die Möglichkeit, eine Sexualbegleiterin zu engagieren
Sexualität im Alter, vielleicht noch todkrank, pflegebedürftig, bettlägerig? Wenn Sie jetzt vor Scham den Kopf senken und trotzdem weiterlesen, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Denn Zärtlichkeit am Lebensende – das ist bis heute ein Tabuthema. Aber eines, dass das Palliativnetz Oberhausen jetzt ans Licht holt. Unter anderem durch einen Vortrag, aber auch durch ein ab dem 12. September freigeschaltetes Beratungstelefon.
Netzwerk-Koordinatorin Petra Podubrin holte mit Martina Kern eine der kompetentesten Ansprechpartnerinnen im Land nach Oberhausen. Kern ist Leiterin der NRW-Ansprechstelle zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung. Ihr Wissen gab sie jetzt in der Senioreneinrichtung Gute Hoffnung Leben an knapp 100 Interessierte weiter.
„Welche Pflegefachkraft kennt das nicht?“, fragt Kern. „Da wird ein pflegebedürftiger Mensch gewaschen und plötzlich regt sich etwas da unten.“ Sexualität in jungen Jahren – das Natürlichste der Welt. „Aber können Sie sich vorstellen, dass Ihre Eltern noch regelmäßig Sex haben?“ Sie selbst habe sich eines Tages ein Herz gefasst und ihre eigenen Eltern einfach gefragt. „Die Antwort hat mich überrascht“, räumt sie ein. Sie lautete: „Selbstverständlich.“
Was macht den Menschen aus?
„Was“, fragt Kern, „macht uns Menschen aus?“. Spiritualität und Seele gehörten sicherlich zum Menschsein, Selbstbestimmung ebenfalls, „aber eben auch unsere Körperlichkeit“. Martina Kern betont: „Patienten sind doch keine asexuellen Wesen, sie haben das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.“ Doch sie weiß: „ In der Realität hört die Selbstbestimmung auf, wenn die Pflege anfängt.“ Und dann berichtet sie über zwei Vorfälle aus dem Pflegealltag im Seniorenheim.
In dem einen wurde eine alte Dame dabei „erwischt“, als sie sich sinnliches Vergnügen mit Hilfe einer Banane verschaffte. Folge: Sie erhielt keine Bananen mehr, wurde mit Medikamenten ruhig gestellt. Der zweite Fall: Eine demente Seniorin bedrängte täglich und voller Leidenschaft den älteren Herrn aus ihrem Nachbarzimmer. Der fand das aber gar nicht gut. „Also redete das Pflegepersonal dieses Hauses mit dem Sohn der Frau und bat ihn, einen Vibrator mitzubringen.“ Die alte Dame wurde von der Pflegefachkraft in die Handhabung eingewiesen. „Seitdem sind alle Beteiligten glücklich.“
Noch sei das zweite Beispiel eher die Ausnahme. „Fast 87 Prozent der betroffenen Patienten wünschen sich ein Gespräch über Sexualität, aber nur ein Prozent wurde in palliativen Einrichtungen darauf angesprochen“, weiß Kern. Sie ergänzt: „Bei Verstopfung und Durchfall haben wir diese Hemmschwelle nicht.“
Signale sind nicht zu überhören
Dabei seien die Signale oft nicht zu überhören: „Ich mag meinen Körper nicht mehr.“ – „Was bin ich denn noch?“ – „Sie ekeln sich sicher auch vor mir?“ – „Mein Körper ist wie ausgeweidet.“ Gesprächsangebote, auf die Betreuer, egal ob in Senioreneinrichtung oder Hospiz eingehen sollten. „Im Laufe eines solchen Gespräches erzählte mir eine sterbenskranke Patientin, deren Bauch vom Bauchwasser aufgebläht war, dass sie so gerne noch einmal mit ihrem Mann schlafen würde – aber nicht wisse wie.“ Kern erzählt: „Ich habe sie gefragt, ob sie mit ihrem Mann geschlafen hat, als sie schwanger war. „Ja, aber anders“, lautete die zögerliche Antwort. Der Groschen war gefallen. Das Ergebnis: „Es war so schön!“, bedankte sich die Patientin eine Woche später.
Mehr Offenheit, mehr Achtung durch Beachtung fordert Kern von Fachkräften und Angehörigen. Vielleicht mit einer Portion Humor dazu.
In Holland gibt es Sexualbegleiter/innen auf Rezept
Noch sei der Weg zu einem offenen Umgang mit Sexualität am Lebensende in Deutschland weit, sagt Martina Kern, Leiterin der Ansprechstelle Palliativversorgung NRW. „In Holland gibt es zum Beispiel Sexualbegleiter längst auf Rezept.“ Dabei gehe es übrigens keinesfalls nur um den reinen Geschlechtsakt. „Die meisten Patienten haben einfach das Bedürfnis, nach etwas Zärtlichkeit und Kuscheln.“ Oder wie es ein 50-jähriger Todkranker ausgedrückt habe: „Ich möchte noch einmal die warme, weiche Haut einer Frau spüren.“
Martina Kern rät: „Sexualbegleiter und Sexualbegleiterinnen gibt es auch bei uns und zwar für Männer und Frauen. Schauen Sie im Internet nach, erkundigen Sie sich bei der Frauenberatungsstelle.“
Das will Petra Podubrin, Koordinatorin des Palliativnetzes Oberhausen und im Ambulanten Hospiz aktiv, auf Wunsch auch gerne tun. Ab Montag, 12. September, schaltet das Netzwerk auch sein Beratungstelefon (8 bis 16 Uhr, Tel. 0208-6954445) frei. Dort erhalten Interessierte dann Rat zu wirklich allen Themen rund um die Pflege von schwerkranken Menschen.