Prof. Dr. Wolfgang Benz, Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, fand bei seinen Untersuchungen zu den Ausschreitungen während der Novemberpogrome keine schweigende Mehrheit, sondern nur viel zu viele Mittäter. . .

„Nur fanatische Nazis waren bei den Novemberpogromen 1938 die Täter, die normale Bevölkerung hat die gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden abgelehnt.” – „Das ist eine Legende”, stellt Prof. Dr. Wolfgang Benz am Freitagabend während seines Vortrages zur Reichspogromnacht in den Räumen der Volkshochschule klar.

70 Jahre nach der „moralischen Katastrophe” referierte der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung über das Verhalten der Öffentlichkeit bei den Ausschreitungen. Wie haben sich Nachbarn und Bürger verhalten, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ganz Deutschland Juden misshandelt wurden, Synagogen und Geschäfte in Flammen standen?

Keine Frage, die Novemberpogrome waren vom nationalsozialistischen Regime organisiert und gelenkt. „Der Vandalismus sprang aber auf Unbeteiligte über. Es gab viele Täter, die weder in der Hitlerjugend noch in der NSDAP waren. Darunter auch Frauen, die sich an den Plünderungen und teilweise auch an den Gewaltakten beteiligten”, klärte Benz seine Zuhörer auf. Er nannte zahlreiche Belege für kollektive Barbareien, berichtet von einem 17-Jährigen, der eine Jüdin durch die Straßen prügelte, erzählt von einer Männergruppe, die ein jüdisches Ehepaar misshandelte, deren Mobiliar demolierte und zwischendrin immer wieder im Wirtshaus verschwand.

„Und das waren keine Unbekannten, die sich unter dem Mantel der Anonymität versteckten, sondern häufig auch unmittelbare Nachbarn der Opfer”, so Benz. Zahlreiche Prozessakten hat der Historiker für seine Recherchen ausgewertet. „Ab 1946 bis weit in die 50er Jahre gab es in vielen Orten Prozesse gegen Beteiligte und Nachbarn. Die Staatsanwaltschaft hat sie wegen Plünderung, Aufruhe und Landfriedensbruch angezeigt”, erfuhr der Historiker.

Immerhin aber habe es während der Pogrome auch einige Beispiele von Zivilcourage und Anstand gegeben. Die oft zitierte „schweigende Mehrheit” kann Benz nicht bestätigen: „Für viele war die Aufforderung zum Pogrom offensichtlich ein Ventil für Mordlust und Zerstörungswut.”

Offene Worte, die die Zuhörer sichtlich schockierten. Auf die Frage „Warum?” hatte aber auch Benz keine Antwort parat: „Dafür reicht das historische Handwerk nicht aus. Wir können nur zeigen, was passiert ist.”