Oberhausen. . Mit „The Rest is Noise“ spielt die Ruhrtriennale im Theater Oberhausen. Feinfühlig vermittelt Johan Simons den Charme der gefürchteten Avantgarde.
Auf den Buchseiten 383 bis 520 von „The Rest is Noise“ erfahren die Leser auch noch, wie Dmitri Schostakowitsch sich als Gast und Vorzeige-Dissident in New York quälte und wie Benjamin Britten in grauer englischer Nordsee-Idylle seinen Welpencharme ausspielte: Alles für die Oper und Aldeburgh. Aber sich dieser beiden Nachkriegs-Größten unter den Komponisten auch noch anzunehmen – das hätte wohl die Bühne des Theaters Oberhausen gesprengt.
Die vierte Etappe des Ruhrtriennale-Intermezzos durch die Stadttheater des Reviers war auch so ein nicht nur lehr- und kunstreicher, sondern auch still-vergnüglicher Abend. Statt Funkemariechen funkelte hier der Esprit des Alex Ross, dem an diesem Abend Susanne Burkard ihre Stimme lieh – und es war nicht nur ein akustisches Vergnügen, sondern auch nett anzusehen, wie sie in feinster TV-Showmaster-Tradition mit ihrem Textblatt spielte oder aus dem ebenso nostalgisch-schicken Drehsessel schnellte. Ein Arsenal von Stehlampen auf der Bühne vertiefte das gedimmte Flair eines häuslichen Fernseh- und Lese-Abends
Doch keine Sorge: Niemand musste in aller Gemütlichkeit einnicken. Dazu lieferte Alex Ross, der 48-jährige Musikkritiker des „New Yorker“, zu viele Pointen, die er in seinem faktensatten 600-Seiten-Buch mit geradezu britischem Understatement kredenzt. Und es gab ja – neben fünf weiteren überaus präsenten „Stimmen“ des Schauspiel-Ensembles – die hellwache Kammermusik von Olivier Messiaen und John Cage.
Ein beeindruckend subtiles Spätwerk
Sie waren die Helden dieser vierten Etappe (von sechs) durch die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts: Der Heilige Franziskus von Paris, der von seiner Rolle als Komponist behauptete: „Ich möchte unbedingt hinter den Vögeln verschwinden“. Und der Zen-Bogenschütze aus New York, der seine Tonfolgen nach dem chinesischen Orakel des I-Ging auswürfelte, der nicht zielte, aber traf!
Regisseur und Triennale-Intendant Johan Simons hatte aus dem sperrigen bis gefürchteten Oeuvre der Nachkriegs-Avantgarde zwei bezaubernde Werke ausgewählt: Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“, vor 75 Jahren uraufgeführt in der „sibirischen Kälte“ eines schlesischen Kriegsgefangenenlagers, klang trotz des Titels keineswegs apokalyptisch: Vor allem Klarinettist Andreas Weiß Vogelstimmen-Solo erhielt entzückten Applaus. Auch die rhythmisch schärfer akzentuierten Beispielsätze aus „Quatuor pour la fin du temps“ zeichnete jenes „bezaubernde polyphone Chaos“ aus, das Olivier Messiaen den Vogelstimmen nachrühmte.
Als Stimme des in seiner ornithologischen Leidenschaft singulären Komponisten übernahm Torsten Bauer (neben der Erzählerin) die größte Sprecher-Rolle. Anja Schweitzer, apart androgyn als Karlheinz Stockhausen wie als John Cage, und Michael Witte als Pierre Boulez mussten sich vergleichsweise kurz fassen. Dafür gab’s als Einspielung jenes allerliebste TV-Kuriosum, das den jungen Cage zeigt, wie er – beständig unterwegs zwischen einem Sammelsurium von Utensilien – seine plätschernde, glucksende, zischende „Wassermusik“ tönen lässt.
Auf der Bühne waren die drei Schlagwerker des Bochumer Symphoniker mit Cages „Three2“ kaum weniger beschäftigt: Lärm? Keineswegs, sondern ein beeindruckend subtiles Spätwerk. Und auch in „ASLSP (As slow as possible)“ ließ dieser fein geschwungene Abend per Live-Schaltung nach Halberstadt hineinhören: „So langsam wie möglich“ muss die Orgel dort, in St. Burchardi, noch 624 Jahre durchhalten.