Oberhausen. . In nahezu jeder Straße gibt es sie: Das Netz der Abwasserkanäle in Oberhausen umfasst rund 570 Kilometer. Abstieg in einen Kanal, der Experten bis heute begeistert

Sie verlaufen unter nahezu jeder Straße, jeder Bürger ist auf sie angewiesen, doch wirklich gut riechen kann sie eigentlich keiner: Abwasserkanäle und eine funktionierende Kanalisation sind existenziell notwendig für das Leben in einer Stadt. Wirklich gern gesehen ist dieser Teil der kommunalen Infrastruktur trotzdem nicht. Schade, denn unter unseren Füßen verbergen sich 100 Jahre alte Ingenieurleistungen, die Experten noch heute viel Anerkennung abverlangen.

Wir steigen in einen Abwasserkanal hinab, der als nur noch selten zu findendes Mauerwerk seit 1910 seinen Dienst tut. Ein letzter Tipp vom Fachmann? Walter Goebels von den Wirtschaftsbetrieben WBO lächelt freundlich: „Noch mal tief durchatmen.“

568 Kilometer Kanalnetz verlaufen unter Oberhausens Straßen, Teile sind 115 Jahre alt, andere brandneu. Seit 1996 kümmert sich die halbstädtische WBO mit ihren Mitarbeitern um die Entwässerung, kontrolliert, saniert und baut Kanäle, Straßenabläufe und Anschlussleitungen. 32 Mitarbeiter ge­hören allein zu dem operativen Bereich, darunter Goebels, Reinhard Thiel und Holger Kroggel. Für den Besuch haben die Drei mit Hochdruck unterirdisch sauber gemacht, helfen nun in die Schutzkleidung. Jeder Gast bekommt eine Notfall-Metallkassette, bevor er mehrere Meter durch den offenen Schacht gegenüber dem Gewerkschaftshaus an der Friedrich-Karl-Straße abgeseilt wird.

Wirtschaftsbetriebe bestehen seit 20 Jahren

Bis zu den 1990er Jahren waren die Abwasserkanäle mit all ihren angeschlossenen Aufgaben Sache des städtischen Tiefbauamtes. 1993 wurde dies in einen Eigenbetrieb ausgegliedert, bis 1996 die Wirtschaftsbetriebe WBO als öffentlich-private Partnerschaft – damals ein Novum – gegründet wurde.

51 Prozent an der WBO gehören der Stadt über das Nahverkehrsunternehmen Stoag, 49 Prozent der Remondis GmbH.

Unten fällt zuerst auf, wie warm und wie hoch die Luftfeuchtigkeit ist. Es riecht, aber nicht so schlimm wie erwartet. Durch den Schacht fällt Licht auf den Boden aus roten Steinen. In der Mitte hat er eine armbreite Senke, durch die das bräunliche Abwasser weniger als knietief fließt. „Bei Starkregen sieht das natürlich anders aus“, sagt Kanalmeister Martin Klein-Reesink mit lauter Stimme. Der dichte Raum und das Plätschern erschweren das Verstehen.

In etwa von der Schwartzstraße am Rathaus bis zum WBO-Betriebshof an der Buschhausener Straße führt dieses Mauerwerk; selbst Sammler, an denen zwei Kanäle zusammentreffen, sind aufwendig gearbeitet. Das Dach aus rotem Stein wölbt sich mehr als mannshoch. Wände, Boden und Decke sind sauber verfugt – sein Alter sehe man dem Kanal nicht an, meint WBO-Chefin Maria Guthof anerkennend.

Das Gerät misst Gase, die etwa durchs Vergären der Fäkalien entstehen.
Das Gerät misst Gase, die etwa durchs Vergären der Fäkalien entstehen. © FUNKE Foto Services

Gemauert wurden Kanäle früher immer dann, wenn sonst genutzte Rohre nicht groß und leistungsfähig genug waren. Wie der Kanal gebaut worden ist, zeigen Fotos und Zeichnungen, die im WBO-Betriebshof archiviert sind: Um den Kanal stabil zu machen, hat er drei gemauerte Schichten. „Die besonders guten Steine hat man nach innen gelegt“, erklärt Klaus in der Beek, WBO-Betriebsleiter „Kanäle und Straßen“. Mit vielen Kräften wurden bis zu zwölf Meter Kanal am Tag gebaut – „das ist eine gewaltige Leistung“, sagt in der Beek anerkennend. Sein Abteilungsleiter Andreas Croonenbroeck merkt aber an: Heute würde man Kanäle nicht mehr mauern. „Das wäre nicht mehr wirtschaftlich.“

Der Boden in der Kanalrinne ist rutschig, das Laufen in den hohen Schutzstiefeln schwierig. Gefühlt ist längst die Bahnbrücke zum Hauptbahnhof unterquert, als Kanalmeister Klein-Reesink zum Ausstiegsschacht führt. Oben angekommen, bietet der Blick zurück eine Überraschung: Nur wenige Meter sind zurückgelegt. Im 106 Jahre alten Kanal ist das Zeitgefühl verloren gegangen.

Mancher Kanal ist älter als die Stadt 

Lange Zeit wurden Abwässer noch oberirdisch über Rinnsäle in Gewässer geleitet. Eine stinkende Angelegenheit, die zudem schlimme Folgen für die Menschen haben sollte: Abwasser, das versickerte, verseuchte das Grundwasser. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fing man deshalb an, Kanalisationen in Betrieb zu nehmen.

Im Betriebshof der WBO zeugen handgezeichnete Karten von der ersten Kanalisation. Manche Abschnitte des Netzes sind älter als diese Stadt, die in ihren heutigen Grenzen seit 1929 besteht. Der älteste noch betriebene Abwasserkanal befindet sich unter der Goethe- und Sedanstraße im Rathausviertel. Er wurde 1902 aus Steinzeugrohren zusammengesetzt. Diese Rohre werden noch heute im Kanalbau verwendet, auch wenn sich technisch Vieles verändert hat.

Selbst die Treppen zum Auf- und Abstieg sind 1910 gemauert worden.
Selbst die Treppen zum Auf- und Abstieg sind 1910 gemauert worden. © FUNKE Foto Services

In einem Zeitraum von 15 Jahren müssen alle Kanäle auf mögliche Schäden hin geprüft werden; beaufsichtigt wird die WBO dabei von der Bezirksregierung in Düsseldorf. Mancher Kanal wird vor Ort geprüft – Mitarbeiter laufen hindurch. Bei kleineren Rohren setzt die WBO auf Kameras, die von der Straße aus durch den Schacht eingelassen und per Joystick gesteuert werden. Im WBO-Betriebshof gibt es umfangreiche Datenbanken mit Bewegtbildern aus vielen Jahrzehnten.

8,9 Millionen Euro umfasst das Jahresbudget, das die Wirtschaftsbetriebe für den Bereich Entwässerung zur Verfügung hat. Für Sanierungen oder Neubauten verabschiedet der Rat der Stadt jedes Jahr ein Kanalbauprogramm. Zuletzt lag die Summe dafür bei rund zehn Millionen Euro.

568 Kilometer umfasst laut WBO derzeit das Kanalnetz in Oberhausen. Der Großteil, 526 Kilometer, sind Mischwasserkanäle, dazu kommen Stauraum-, Regen- und Schmutzwasserkanäle sowie Pumpwerke und allein 14 324 Schachtbauwerke.