Mülheim. Wie bewerten Mülheimer das Gemeinschaftsgefühl in ihren Stadtteilen? Ein Podcast-Projekt zeigt, wie Nachbarn in Krisenzeiten zusammenwachsen.

Warum leben Menschen gerne in ihrem Viertel? In erster Linie ist es wohl das „Wir-Gefühl“, das einen Stadtteil lebenswert macht. In unserem Stadtteilcheck hatten wir die Mülheimer daher gefragt, wie es um das Gemeinschaftsgefühl in ihrem Ortsteil steht: Die besten Noten geben Bewohner der Heimaterde (1,8), Selbeck oder Mintard (jeweils 1,9), die schlechteste Eppinghofen (4,3). Ein Podcast-Projekt aus Heißen (Note 3) zeigt, wie Nachbarn sich gegenseitig ein „Wir-Gefühl“ schenken.

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Nachbarn haben tolle Geschichten zu erzählen

Wenn Ralf Bienko sein Mikro anknipst, hat er nichts mehr zu melden – dann zählt nur noch sein Gegenüber. „Ich lasse die Leute dann einfach erzählen, oft kommen ganz tolle Geschichten dabei raus“, sagt der 60-Jährige, der seit Mai dieses Jahres das Podcast-Projekt „Nachbarschaftshaus – Neues aus Heißen“ ehrenamtlich produziert.

Meist sprechen Nachbarn aus Heißen in dieses Mikro, aber auch er selbst und die Mitarbeiter des Nachbarschaftshauses, das der Mülheimer Wohnungsbau (MWB) im September 2019 am Hingberg eröffnet hat. Dort ist das Projekt angesiedelt und ursprünglich als Corona-Podcast gestartet, der die Menschen informieren und aufklären soll.

Gedichte, Geschichten, Witze und Service-Themen

Mittlerweile haben sich die Podcast-Sendungen auf weitere Themen ausgeweitet. Es geht um Alltägliches und Ungewöhnliches, Ernstes und Lustiges. Frauen und Männer lesen Witze vor, Omas erinnern sich an das Ende des Krieges, Kinder erzählen Reime, ein Hausarzt berichtet über den Corona-Alltag in seiner Praxis . Aber auch bekannte Mülheimer wie Ex-Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld oder die damaligen OB-Kandidaten Griefahn und Buchholz hat Bienko für den Podcast bereits interviewt.

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„Wichtig ist, dass die Sendung neben ernsten Themen immer auch ein gutes Gefühl, eine positive Perspektive vermittelt“, sagt Bienko, der eigentlich als Bankkaufmann arbeitet, nebenbei aber jahrelang journalistisch unterwegs war . Etwa als Lokalsportreporter oder beim Bürgerfernsehsender OK 43 in Essen. Dort lernte er das Aufnehmen und Schneiden von Beiträgen, das Gespür für gute Geschichten.

Akteure im Nachbarschaftshaus helfen bei der Produktion

Die Folgen erscheinen wöchentlich und sind meist zwischen 15 und 20 Minuten lang, „einige Sonderbeiträge gehen auch mal eine Stunde“, sagt Bienko. Etwa die Folge, in der seine 90-jährige Nachbarin vom Ende des Krieges berichtet , wie sie amerikanische Soldaten über die Aktienstraße fahren sah. „Das sind Schätze, da bin ich jedes Mal richtig fasziniert“, sagt Bienko. „Dann lasse ich das Aufnahmegerät einfach laufen und stelle das Interview in voller Länge auf die Internetseite.“

Podcast bei Apple und Spotify verfügbar

Die Krankenkasse AOK zeichnete Ralf Bienko und seine Mitstreiter aus dem Heißener Nachbarschaftshaus nun mit dem Förderpreis „Gesunde Nachbarschaften“ aus, da dieser das „Wohnumfeld lebenswerter und gesünder“ gestalte.

Das Preisgeld von 1000 Euro möchte Ralf Bienko u.a. in den Podcast investieren: „Ein neues Aufnahmegerät soll es sein.“

Das Heißener Nachbarschaftshaus an der Hingbergstraße 311 ist täglich von 9-12 Uhr besetzt und unter 0208-20 58 69 27 erreichbar.

Den Podcast „Nachbarschaftshaus – Neues aus Heißen“ können Interessierte bei Apple oder Spotify anhören. Auf dieser Internetseite sind die Folgen zudem abrufbar: https://anchor.fm/ralf-bienko2

Zuhause schneidet Bienko die Beiträge und fügt sie zu einer Podcast-Folge zusammen. „Etwa 15 bis 20 Stunden pro Woche arbeite ich daran – es ist zu meiner Leidenschaft geworden.“ Unterstützt wird der Ehrenamtliche bei der Produktion von den Akteuren des MWB-Vereins „Mülheimer Nachbarschaft“ und dem Familien-Netzwerk Heißen, das zum Pflegedienst Behmenburg gehört. Beide sitzen im blauen Nachbarschaftshaus am Hingberg 311, ein Begegnungszentrum mit zahlreichen Angeboten für Nachbarn des Stadtteils.

Gruppen treffen sich im blauen Haus am Hingberg 311

Dort finden Heimat-Ausstellungen , Smartphone-Kurse und Gedächtnistrainings statt, es treffen sich Koch- und Bastelgruppen oder stillende Mütter, aber auch ein Sozialverband berät die Besucher. Da die Angebote in der Corona-Zeit nur eingeschränkt stattfinden, freuen sich viele Nachbarn über den regelmäßigen Podcast – etwa 60 bis 80 Hörer klicken pro Sendung rein.

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Am Anfang sei es vor allem darum gegangen, „den Nachbarn die Corona-Angst zu nehmen und ihnen Mut für diese schwierige Zeit zu machen“, erklärt Peter Behmenburg, der als Sozialarbeiter für den Pflegedienst im Einsatz ist. Denn: „ Gerade ältere Menschen sind in der Corona-Zeit stark isoliert“, weiß auch Alexandra Teinovic vom Nachbarschaftsverein, die im blauen Haus erste Ansprechpartnerin für die Menschen im Viertel ist.

Podcast auf ganz Mülheim ausweiten

Der Stadtteil-Check kurz und kompakt

Der Podcast kann aber nicht nur angehört werden. Alle Nachbarn sind eingeladen, sich selbst einzubringen, ihre Geschichten, Gedichte oder Witze zu erzählen. „Jeder darf sich beteiligen, dafür haben wir einen Chip im Nachbarschaftshaus, auf dem man etwas einsprechen kann“, sagt Bienko. Wer mit der Technik nicht zurechtkommt, dem leistet Alexandra Teinovich Hilfe.

Da der Podcast so gut ankommt und die Themen quasi auf der Straße liegen, denken die Akteure darüber nach, das Projekt auf weitere Stadtteile auszuweiten. „So könnten wir für Nachbarschaften in ganz Mülheim etwas tun“, meint Teinovic. Schließlich hat Ralf Bienko schon viele Ideen für weitere Podcast-Serien. Er findet: „Wir sind als Nachbarn gekommen und zu Freunden geworden – das ist das Schönste daran.“