Den Verstand hat diese Familie Tyrone längst in Alkohol und Drogen ertränkt. In der Inszenierung von Eugene O’Neills Familientragödie „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, die am 30. November in der Inszenierung von Roberto Ciulli Premiere feiert, ist die Bühne geflutet. Die vier Schauspieler müssen immer wieder knöcheltief durch das Wasser waten (Bühne: Gralf Edzard Habben). Bücher liegen im Wasser, die später von dem jungen, schwindsüchtigen Sohn Edmund (Marko Leibnitz) trocken gelegt werden, Brillen und vor allem auch mehrere Schuhe. Es sind wohl welche des Vaters. In sie schlüpft Edmund später versuchsweise. Zu groß sind sie ihm nicht, aber nicht bequem, so bleibt er barfuß. Den Vater lehnt er wie auch sein Bruder Jamie ohnehin entschieden ab.

Die Bühne bietet zu Beginn des zweistündigen Abends den Anblick eines Schlachtfeldes. Nachdem sich der Nebel gelichtet hat, sieht man die beim letzten Exzess am Vortag umgestoßenen Tische und Stühle. Und rasch wird abermals zur Whiskeyflasche gegriffen, die sich rasch leert. Gewalt, auch wenn sie nicht unbedingt handfest ausgetragen wird, ist in der Familie allgegenwärtig. Die Mutter allerdings wird von allen mit Glacéhandschuhen angefasst. Sie ist Morphinistin, hat kürzlich den Entzug gemacht, erleidet aber an dem Tag, an dem das Stück spielt, erneut einen Rückfall.

Das 1956 nach dem Willen des Autors posthum erschiene Stück, das sowohl mit dem Pulitzer-Preis als auch mit dem Tony ausgezeichnet wurde, trägt unverkennbar autobiographische Züge. Er habe dieses „Schauspiel um alten Kummer mit Blut und Tränen geschrieben und mit großem Mitgefühl und Verständnis für alle vier gepeinigten Tyrons“, schreibt O’Neill, der an Schwindsucht im Hotel starb.

Aber diese Bezüge allein machen das Stück nicht interessant, erst recht nicht aktuell. Das Thema Gewalt und Familie liege in der Luft, sagt Ciulli. Es gehe auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gerade in diesen Tagen haben Google und Facebook Frauen das Einfrieren ihrer Eizellen ermöglicht, um im fortgeschrittenen Alter noch Mutter werden zu können, was der 80-Jährige Regisseur gleich als Beleg für diese Aktualität anführt.

Der Alkohol ist aber auch immer die Triebfeder, um Verdrängtes, Verleugnetes oder aus Rücksicht Verschwiegenes zur Sprache zu bringen, so werden die Personen immer weiter entlarvt. Das kennt man auch von Edward Albee und Tennesse Williams, für die O’Neill, vergleichbar mit Pirandello in Italien, der Vater des modernen Theaters war, wie Ciulli erklärt. Zuvor gab es nur Boulevard, Revuen und Musicals. Die Klassiker und die europäische Moderne wurden nur an den Universitäten gelesen und gespielt. O’Neills Vater, James O’Neill, war selbst Teil dieser Theatermaschine. Der aus ärmlichen Verhältnissen in Irland stammende Schauspieler hatte den „Graf von Monte Christo“ für die Bühne adaptiert und die Rolle 16 Jahre lang gespielt, war reich geworden, doch die Routine und der Alkohol raubten ihm jede Kreativität. Sein Sohn hasste ihn und seinen Geiz, was sich in dem Stück widerspiegelt.

Es sind archaische Konflikte, die bei O’Neill auf der Bühne verhandelt werden. Die Klassiker habe er gut gekannt. „Der Generationskonflikt ist der Motor der Theaterliteratur“, sagt Helmut Schäfer, der auf die Bezüge zur klassischen Tragödie hinweist. Vatermord, die Rivalität zwischen den Söhnen, Mutterliebe und auch der Rausch.
Geheimnisse, die durch den Alkohol zu Tage gefördert werden, gibt es hier viele: Ein an Masern gestorbenes drittes Kind etwa, dessen Kinderkleider die Mutter noch immer in einem Koffer hütet. Die Schuld an dessen Tod gibt sie dem älteren Sohn Jamie (Fabio Menendez). Er sei eifersüchtig gewesen. „Ich habe ihm das nie verzeihen können“, sagt Mary (Simone Thoma).

„Die Familienmitglieder suchen nicht nach einem Menschen, der sie versteht, sondern jemanden, der ihr Leiden vermehrt und dem sie die Schuld dafür geben können“, sagt Ciulli. Mal wird der grenzenlose Geiz des Vaters verantwortlich gemacht, mal der unfähige Arzt. „Wahrscheinlich ist er durch das Leben so geworden“, sagt Mary über ihren Mann. „Was das Leben aus uns gemacht hat, dafür kann keiner was. Ehe man sich’s versieht, ist es passiert.“ Zufrieden war sie vermutlich nie. Immer wieder klagt sie über die schäbigen Hotels und das unstete Leben. „Ich habe es satt, so zu tun, als ob das ein richtiges Zuhause wäre. Du weißt ja gar nicht, was das ist, ein richtiges Zuhause.“

Soundtrack dieser Familientragödie sind Rockklassiker der späten 60er Jahre: Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison – allesamt Klassiker, die ihrer Sucht zum Opfer gefallen sind.