Mülheim. . Tengelmann „beerdigt“ sein Supermarktgeschäft. Das Traditionsunternehmen mit Stammsitz in Mülheim will sich von allen 451 Märkten trennen. Weitere Verkäufe geplant. Neben 125 Mitarbeitern in fünf Mülheimer Filialen sind rund 520 Beschäftigte in der Zentrale betroffen.
Die Unternehmensgruppe Tengelmann will ihre Wurzeln kappen: Auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz am Dienstag um 14 Uhr verkündete Karl-Erivan Haub, der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens, den Ausstieg von Kaiser’s Tengelmann aus dem Supermarktgeschäft. 121 Jahre nach der Eröffnung der ersten Verkaufsstelle für den Vertrieb von Kaffee, Tee und anderen Kolonialwaren ist das Ende von Tengelmann-Märkten eingeläutet – Edeka soll übernehmen.
Um 11 Uhr erreichte ein zweiseitiger Brief von Haub die 15 958 betroffenen Mitarbeiter in den 451 Filialen und in der Speldorfer Verwaltungszentrale. Das sei „ein äußerst trauriger und schmerzlicher Tag“, sagte der geschäftsführende Gesellschafter drei Stunden später bei der Pressekonferenz im hauseigenen Casino an der Wissollstraße. Es habe schon viele Tränen gegeben. „Es kommt mir ein bisschen wie eine Beerdigung vor.“
Haub: 15 Jahre lang Verluste ausgeglichen
15 Jahre lang schon habe das Supermarkt-Geschäft Verluste eingefahren, so Haub. Lange habe die Unternehmerfamilie sich gesträubt, es sei aber an der Zeit gewesen, „der Realität ins Auge zu sehen“. Mit 0,6 % Marktanteil sei keine Trendwende auf dem umkämpften deutschen Lebensmittelmarkt mit seinen niedrigen Margen zu schaffen. Selbstkritisch räumte er ein, dass sein Familienunternehmen es nicht verstanden habe, nach dem Zukauf von Kaiser’s im Jahr 1971 „etwas Nachhaltiges daraus zu machen“.
Die Entscheidung fiel „schweren Herzens“
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
es fällt mir nicht leicht, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Aber es ist mir ein Anliegen, Ihnen persönlich mitzuteilen, dass und warum wir uns schweren Herzens dazu entschieden haben, unser Supermarktgeschäft zum 30. Juni 2015 an Edeka abzugeben.
Wie Sie wissen, machen uns unsere Supermärkte seit vielen Jahren große Sorgen, da es uns trotz massiver Anstrengungen aller nicht gelungen ist, in die schwarzen Zahlen zu kommen. Viele Jahre, vielleicht zu viele Jahre, haben wir hohe Verluste ausgeglichen und immer wieder gehofft, dass sich die wirtschaftliche Situation verbessern ließe. Die Realität hat uns leider eines Besseren belehrt.
Im vergangenen Winter haben wir deshalb auf Wunsch der Geschäftsführung und in Abstimmung mit dem Aufsichtsrat das Unternehmen einer strategischen Gesamtanalyse unterzogen. Das Ergebnis fiel sehr schmerzlich aus und ließ uns bei realistischer Betrachtung nur zwei Möglichkeiten: Entweder ein tiefgreifendes Veränderungsprogramm mit sehr harten Einschnitten in allen Bereichen mit der vagen Aussicht, in drei Jahren die Verlustzone zu verlassen. Oder die Aufgabe unserer Supermarkttochter.
Waren wir als Unternehmerfamilie zu Beginn fest entschlossen, es aus eigener Kraft noch einmal zu versuchen, wurde uns während der Erarbeitung der für das Programm erforderlichen Maßnahmen und Restrukturierungskosten immer klarer, dass es uns an der nötigen Größe und Substanz fehlen würde. [...]
Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Sie haben Ihrem und unserem Unternehmen jahre-, teilweise jahrzehntelang die Treue gehalten und mit Ihrem persönlichen Engagement dafür gesorgt, dass die Kunden von Kaiser’s Tengelmann sich in unseren Filialen wohlgefühlt und gerne dort eingekauft haben. Dafür danke ich Ihnen – auch im Namen meiner gesamten Familie – sehr herzlich und bitte Sie, in Ihren Bemühungen auch in der Übergangszeit und nach dem Eigentümerwechsel nicht nachzulassen. [...]
Ich bin der festen Überzeugung, dass die nun gefundene Lösung unter den gegebenen Umständen die beste Alternative ist und unseren Supermärkten neue Zukunftsperspektiven eröffnet.
Nun wird der Verkauf der Supermarkt-Sparte an Edeka angestrebt. Die Verträge dazu sind fixiert. Ihm sei es wichtig gewesen, so Haub, das Geschäft als Gesamtpaket weiterzugeben. So könnte eine höchstmögliche Zahl an Arbeitsplätzen erhalten werden. Zum 30. Juni 2015 sollen die rund 16 000 Mitarbeiter und 451 Filialen an Edeka gehen, wenn die kartellrechtliche Prüfung erfolgreich durchlaufen wird, woran zumindest Zweifel bestehen.
645 Jobs in Mülheim betroffen
In Mülheim sind neben 125 Mitarbeitern in derzeit noch fünf Filialen laut Haub auch rund 400 Beschäftigte von Kaiser’s Tengelmann in der Speldorfer Zentrale betroffen. Weil Edeka auch die Online-Firmen Plus.de und „GartenXXL.de“ übernehmen soll, sind weitere 120 Jobs am Standort in Gefahr, verlagert zu werden. Ein Prognose zu den in Mülheim betroffenen Mitarbeitern mochte Haub am Dienstag nicht wagen, das liege schließlich in der Entscheidungshoheit von Edeka. Er sagte nur: „Man sollte wissen, dass eingespielte Teams am besten zusammenarbeiten.“ Zum Standort Mülheim gab Haub ein Bekenntnis ab. „Die Zentrale bleibt die Zentrale. Wir werden uns konzentrieren auf unsere marktführenden Marken“, sagte er mit Blick auf die Baumarktkette Obi sowie die Textildiscounter Kik und Tedi.
Sorge um Jobs, um Tarifbindung und Mitbestimmung
Die Tengelmann-Nachricht sorgte am Dienstag allenthalben für Überraschung. Jürgen Schnitzmeier, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung „Mülheim & Business“ äußerte im Gespräch mit dieser Zeitung seine Sorge um die Zukunft der betroffenen Jobs in der Speldorfer Tengelmann-Zentrale. Die Entscheidung des Familienunternehmens, sich von dem Supermarktgeschäft zu trennen, sei aber „nachvollziehbar“, weil Kaiser’s Tengelmann im harten Wettbewerb der Branche nicht die nötigen Größeneffekte erzielen könne. Schnitzmeier hofft nun darauf, dass Tengelmann in anderen Geschäftsfeldern, insbesondere auf dem zuletzt starken Wachstumsgeschäft des E-Commerce, weiter zulegt und diese Weiterentwicklung „von Mülheim aus“ stattfindet.
Verdi-Geschäftsführerin Henrike Greven zeigte sich derweil insbesondere besorgt um die Zukunft der Supermarkt-Beschäftigten. Das Geschäftsmodell von Edeka mit selbstständigen Filialen halte weder einen Tariflohn noch eine Betriebsrente vor. Bei einer Übernahme werde es „sicher kein leichtes Unterfangen“, Mitbestimmung und Tarifbindung durchzusetzen. Greven sprach von einer Enttäuschung bei den Tengelmann-Mitarbeitern. Schließlich seien sie in den vergangenen drei Jahren mit dem Verzicht auf die Hälfte ihres Weihnachtsgeldes schon zur Gesundung des Supermarktgeschäftes von Tengelmann herangezogen worden.