„Deutschland macht Friedensvorschlag, aber Polen will nicht verhandeln.“ Mit dieser Titelschlagzeile verschleierte die vom NS-Regime gleichgeschaltete Mülheimer Zeitung am 1. September 1939 den deutschen Überfall auf Polen, mit dem vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg begann. Wie sieht der 20 Jahre nach Kriegsende in Polen geborene Mülheimer Wojciech Brzeska, der seit 26 Jahren in Deutschland lebt, dem 1. September entgegen, der auch in diesem Jahr auf Einladung des Deutschen Gewerkschaftsbundes als Antikriegstag (ab 11 Uhr) mit einer Kranzniederlegung am Mahnmal im Luisental begangen wird, entgegen? Und wie beurteilt er vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie die wechselvolle Geschichte und Gegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen?

Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Ihrem Leben?

Brzeska: Mein deutschstämmiger Vater, der 1927 geboren wurde und 1975 gestorben ist, hat während des Weltkriegs als Soldat in der Wehrmacht gekämpft. Er hat mir später aber nur erzählt, dass der Krieg für ihn eine schreckliche Zeit gewesen sei. Ich selbst bin als Kind in Polen mit Spielfilmen über den Krieg aufgewachsen, in denen gezeigt wurde, wie schlecht die Deutschen, wie gut die Polen und wie viel besser noch die Russen waren. Ich habe das damals aber nicht kritisch hinterfragt, sondern als unterhaltsame Actionfilme gesehen.

Welche Rolle spielt die Weltkriegserinnerung für das heutige Polen?

Der Zweite Weltkrieg bleibt im Gedächtnis der Polen eine traumatische Erfahrung, die über Jahrzehnte die Identität des Landes bestimmt hat, weil die Polen sich unter der sowjetischen Dominanz nach 1945 auch nicht selbstständig entwickeln konnten und immer wieder um ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen mussten. Aber vor allem die junge Generation schaut heute nicht zurück, sondern in die Zukunft, weil sie sich als Teil der Europäischen Union begreift und anerkennt, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben. Die allermeisten Polen sehen sich heute nicht mehr in der historischen Opferrolle.

Wie fällt Ihre ganz persönliche Bilanz der deutsch-polnischen Beziehungen aus?

Das fällt sehr positiv aus. Seit ich 1988 mit meiner Frau Renate nach Deutschland kam, ist das Ansehen der Polen in Deutschland spürbar gewachsen. Die Deutschen, die schon während der politischen Umbruchphase der 80er Jahre mit den Polen solidarisch waren, erkennen heute auch den wirtschaftlichen Erfolg der Polen an, die ihre neuen Entwicklungschancen als Mitglied der Europäischen Union genutzt haben. Vom Supermarkt bis zur Autobahn. Vieles in Polen sieht heute aus wie in Deutschland. Auch durch zahlreiche Jugendbegegnungen und Städtepartnerschaften, wie zum Beispiel die zwischen Oppeln und Mülheim, sind sich Polen und Deutsche nach 1989 entschieden näher gekommen. Für mich persönlich ist die Erinnerung an das Stadtjubiläum 2008 besonders bewegend, als 80 junge Musiker aus meiner polnischen Heimatregion Kattowitz in meiner Mülheimer Heimatkirche St. Engelbert die von dem in Mülheim lebenden polnischen Komponisten Piotr Radko geschriebene Mülheim-Festouvertüre aufführten.

Was ist für Sie heute Heimat? Deutschland oder Polen?

Inzwischen habe ich mehr Jahre in Deutschland gelebt als in Polen. Außerdem ist hier meine Tochter geboren worden und ich konnte viele meiner privaten und beruflichen Träume, etwa die Freizügigkeit des Reisens oder das Arbeiten als Journalist und PR-Fachmann verwirklichen. Außerdem habe ich hier in Deutschland immer Menschen gefunden, die mich freundlich aufgenommen haben. Deshalb sehe ich heute Deutschland als meine Heimat an, auch wenn ich meine polnischen Wurzeln nicht verleugne und gerne meine in Polen lebende Mutter, meinen Bruder oder meinen Neffen und meine Nichte dort besuche.