Was haben Otto von Bismarck, Richard Wagner, Thomas Mann, Thomas Gottschalk, Peer Steinbrück und Roger Willemsen gemeinsam? Sie sind im Laufe ihrer Schulkarriere sitzen geblieben und haben trotzdem ihren Weg gemacht. Ihr prominentes Beispiel, dem sich problemlos noch einige weitere hinzufügen ließen, kann jenen Schülern und ihren Eltern Mut machen, die in wenigen Tagen auf dem Zeugnis lesen müssen: nicht versetzt.
Doch unabhängig von dem persönlichen Schülerschicksal stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Sitzbleiben pädagogisch Sinn macht. NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann hat das Sitzenbleiben in der NRZ einmal als „Lebenszeitverschwendung“ bezeichnet.
Frühzeitige Förderung
Und wer sich mit dem städtischen Schulpsychologen Günter Waberg und einigen Mülheimer Schulleitern über das Thema unterhält, bekommt ein eindeutiges Meinungsbild: Lieber frühzeitig fördern als sitzen lassen, so der Tenor, weil Sitzenbleiben in der Regel pädagogisch keinen Sinn mache. Doch ganz wollen weder der Schulpsycholge Waberg noch die Schulleiter Gabriele Klar (Max-Kölges-Schule), Ulrike Nixdorff (Hexbachtalschule), Magnus Tewes (Karl-Ziegler-Schule), Ulrich Bender (Otto-Pankok-Schule) und Ralf Metzing (Gymnasium Broich) das Instrument des Sitzenbleibens aus der Hand geben. Denn in Ausnahmefällen könne eine Wiederholung, so glauben sie, doch Sinn machen. Etwa wenn es um die Frage der individuellen Persönlichkeitsentwicklung gehe oder die Lernlücken zum Beispiel durch Krankheit oder andere Schicksalsschläge zu groß geworden seien.
Alle befragten Schulleiter bestätigen, dass an ihren Schulen nur noch ganz wenige Schüler, in der Regel deutlich weniger als zehn pro Schule und Schuljahr, sitzen bleiben. Tendenz weiter rückläufig. Das trifft sich auch mit der Statistik des Schulministeriums, nach der die Zahl der Wiederholer in Nordrhein-Westfalen seit 1998 von 3,7 auf 2,4 Prozent zurückgegangen ist.
„Wie ein Stigma“
Nur der Rektor der Realschule Stadtmitte, Gebhard Lürig, bekennt sich zur Konsequenz, das Sitzenbleiben ganz abzuschaffen. „Sitzenbleiben bringt relativ wenig und die Wiederholung einer Klasse tut den Schülern in der Regel auch nicht gut,“ sagt Lürig. „Wir brauchen ein besseres Auffangsystem und Netzwerk, um schnell eingreifen zu können“, findet der Pädagoge, der selbst in der siebten Klasse vor allem wegen mangelhafter Leistungen im Fach Mathematik sitzen blieb. „Man fühlt sich gar nicht gut. Das ist wie ein Stigma und man muss sich einen neuen Freundeskreis suchen. Ich bin damals zwar, wie Phoenix aus der Asche auferstanden, weil ich sehr verständnisvolle Eltern hatte, die mir geholfen haben und auch in meiner neuen Klasse gut aufgenommen wurde, aber das ist nicht unbedingt der Regelfall“, erinnert sich Lürig.
Zusätzlicher Unterricht
Wie einige seiner Kollegen greift auch Lürig auf das Landesprogramm „Komm mit“ zurück, das neun Lehrer-Wochenstunden für Förderunterricht finanziert. Auch an anderen Schulen greift man leistungsschwachen Schülern mit Förderplänen und Förderstunden, Lernzeiten, Nach- und Hausaufgabenhilfe unter die Arme, um ihnen das demotivierende Gefühl des Sitzenbleibens, aus dem manchmal sogar eine manifeste Schulverweigerung erwachsen kann, zu ersparen.
Doch Gebhard Lürig glaubt, dass es sich auch volkswirtschaftlich auszahlen könnte, wenn man, wie etwa in Skandinavien, in mehr pädagogische Förderung (kleine Klasse mit zwei Pädagogen) investieren und sich das Sitzbleiben sparen würde. Damit ist Rektor Lürig in guter Gesellschaft.
Denn auch der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm hat bereits 2009 in einer Studie festgestellt, dass das Sitzenbleiben volkswirtschaftlich eine Milliarde Euro pro Jahr koste und pädagogisch keinen Mehrwert bringe.