Mülheim. Die Arbeitslosenzahlen gehen zwar zurück, trotzdem haben viele Menschen in Mülheim nicht genug Geld zum Leben. Sie sind auf Hilfsangebote angewiesen.

Wer arm ist und wer nicht – das ist den meisten Kunden des Sozialkaufhauses in Styrum nicht anzusehen. „Manche sparen sich das Letzte vom Mund ab, um sich einen Lippenstift zu kaufen“, sagt Mitarbeiterin Elke Peters. Bloß nicht zeigen, dass kein Geld da ist, für die Miete, für den Strom, für Lebensmittel. Die Scham sei gerade bei älteren Menschen groß. Oft erfährt Bettina Heikamp, Geschäftsführerin im Sozialkaufhaus, erst im Laufe eines längeren, oder gar mehrerer längerer Gespräche, woran es ihren Kunden mangelt, was sie brauchen, was für Geschichten sie mit sich herumtragen.

„Die soziale Not wird immer größer“, so ihr Eindruck. Einsame Senioren, Familien mit vielen Kindern, Alleinerziehende – sie alle kommen ins Sozialkaufhaus, nicht nur, um etwas zu kaufen, sondern auch „weil es hier so nett ist und ich mich mit allen gut verstehe“, sagt Eminaj, die sich lieber nicht für die Zeitung fotografieren lassen möchte. Die kleine Frau mit den langen schwarzen Haaren stammt ursprünglich aus dem Kosovo, lebt aber schon seit 20 Jahren in Deutschland. Mit dem, was sie und ihr Mann verdienten, konnten sie lange Zeit gut für sich und die vier Kinder sorgen. Doch dann starb ihr Mann und Eminaj war plötzlich auf sich allein gestellt. Das Geld sei oft sehr knapp, sagt sie leise.

Bedürftigkeit in Styrum "besonders sichtbar"

Eine junge Frau mit zwei kleinen Mädchen im Schlepptau sucht unterdessen ein neues, gebrauchtes Telefon, ein älteres Ehepaar sieht sich in der Ecke mit den Kaffeetassen um und Ulrich Zöllner, „Postbeamter aus Duisburg Meiderich, in Altersteilzeit“ misst eine Vitrine aus. Nicht jeder, der hier einkauft, ist „arm“, doch die Anzahl derer, die sich nichts anderes leisten könnten, steige an, so Bettina Heikamp. „Manchmal kommen nur 30 bis 40 Leute am Tag, manchmal aber auch 150.“

Natürlich sei das Kaufhaus in Styrum am „richtigen Ort“, da die Bedürftigkeit hier „besonders sichtbar“ sei, doch von einem „schlechten Stadtteil“ will Bettina Heikamp nicht sprechen: „Wenn man mit den Menschen in Kontakt kommt, wird man eines Besseren belehrt“, da würden viele Vorurteile schnell abgebaut.

Der Statistik der Sozialagentur zufolge ist die Arbeitslosenquote in Mülheim zwar im Mai gesunken, die Anzahl der Hilfebedürftigen hingegen ist leicht gestiegen, um 55 Personen auf 18.217.

Menschen können kein Geld zur Seite legen

Dass die Zahl notleidender Mülheimer zunimmt, hat Ulrich Schreyer, Geschäftsführer des Diakoniewerks Ruhr, das die Tafel betreibt, zwar nicht beobachtet. Aber: Die schlechte Situation vieler Betroffener verfestige sich. Sich aus der Abhängigkeit von staatlicher Hilfe zu lösen, sei oft kaum möglich. „Die Vererbbarkeit sozialer Ausgrenzung setzt sich fort“, sagt Schreyer, das heißt: Arbeitslosigkeit wird von einer Generation an die nächste weitergegeben.

Manche Kunden der Tafel hätten sogar Arbeit, würden jedoch so schlecht bezahlt, dass ihr Einkommen trotz Beschäftigung auf Sozialhilfeniveau bleibe. Ähnliches schildert auch Martina Pattberg vom Sozialdienst der Caritas: „Es gibt zwar nicht mehr arme Menschen, aber die Armen werden immer ärmer.“ Aufgrund des niedrigen Einkommens könne kein Geld zur Seite gelegt werden – sei die Waschmaschine kaputt oder stehe bei den Kindern eine Klassenfahrt an, wüssten sich viele Betroffene nicht zu helfen

Hilfebedürftigkeit steigt

Ein Blick auf die Zahlen der Sozialagentur bestätigt den Eindruck, den die Mitarbeiter von Anlaufstellen wie Diakonie, Caritas oder Awo haben: Es kommen zwar nicht wesentlich mehr, aber konstant viele Hilfesuchende. Die Statistik verzeichne „einen moderaten Anstieg“ der Hilfebedürftigkeit, so Jennifer Neubauer von der Sozialagentur. Dabei gibt es regionale Spitzen – wie zum Beispiel in Styrum, wo im Dezember 2012 über 24 Prozent der Bürger Leistungen nach dem SGB II, also vor allem Arbeitslosengeld II erhielten. Die aktuellen Zahlen werden derzeit noch zusammengestellt.

Trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen hält Jennifer Neubauer nichts davon, „bestimmte Bezirke zu stigmatisieren“: Leider sei bislang „kein Durchbruch in Richtung dem Abbau von Hilfebedürftigkeit gelungen“, trotzdem werde weiterhin viel Kraft investiert, um betroffene Bürger zu unterstützen.

Abrutschen in die Überschuldung

Ein weiteres Problem: Viele Langzeitarbeitslose und Menschen mit Niedriglohnbeschäftigungen rutschen in die Überschuldung ab. Die Awo-Schuldnerberatung betreut pro Jahr etwa 1300 bis 1400 Fälle – auch diese Zahl sei seit Jahren konstant hoch, so Berater Carsten Welp. Die meisten Hilfesuchenden seien zwischen 30 und 50 Jahre alt, arbeitslos oder trotz Arbeit nah an der Armutsgrenze. Die steigenden Lebenshaltungs- und Energiekosten täten dann ihr Übriges: „Am Ende des Geldes ist noch viel Monat übrig“, so Welp.

10,61 Prozent der Mülheimer waren laut Schuldneratlas 2012 überschuldet – das wären aktuell knapp 18.000 Bürger. Aus dieser Situation allein wieder auszubrechen, gelingt vielen nicht.