Weniger Schilder, weniger Ampeln, weniger Geschwindigkeit: Vor anderthalb Jahren wurde unter anderem die Leineweberstraße so umgebaut, dass viele Fußgänger glauben, sie hätten dort beim Überqueren der Straße Vorrang. Genau den haben sie aber nicht - höchstens gleiche Rechte.

Das Lob war ernst gemeint. Seit September 2012 gilt an der Leineweberstraße Tempo 20, sind die Ampeln verschwunden, Bordsteine flach, ist in Höhe Kohlenkamp ein empfindliches Hindernis für Autofahrer gepflastert worden und in Summe, hätten sich die neuen Regeln bewährt. Darin waren sich vorige Woche Vertreter aller Parteien und Bündnisse bei einer öffentlichen Diskussion der Verkehrswacht einig. Und ernteten prompt Widerspruch ortskundiger Passanten, die beklagten, dass sich so ziemlich keiner an die Geschwindigkeit hielte und das „Vorrecht der Fußgänger ignoriert“ werde, wie Hans-Jürgen Bleikamp in einem Leserbrief schrieb. In der Tat sieht ja die Leineweber absichtsvoll genau so aus, als seien Fußgänger eingeladen sie allerorten leichterdings zu überqueren. Das Problem daran: Es stimmt nicht.

Gefährliche Unkenntnis

Schon gestern wies Doro Kleine-Möllhoff, Sprecherin des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs darauf hin, dass an der Straße eben lediglich eine Geschwindigkeitsbegrenzung gilt. Deswegen aber gebe es noch lange kein Vorrecht für Fußgänger, wie etwa an einem Zebrastreifen. Ihre Befürchtung ist, dass viele Mülheimer das nicht wüssten und nichtsahnend so handelten, als seien sie im (Vor)Recht.

Der Alltag stützt diese Annahme, auch gestern. Es ist gegen Mittag, als am Überweg Höhe Kohlenkamp Gongschläge und das Blinklicht vor einer nahenden Straßenbahn warnen. Dennoch huscht eine junge Frau noch über die Straße, ohne sonderliche Eile. Und was passiert? Ein Autofahrer hält an und sogar der Straßenbahnfahrer drosselt gelassen, aber recht abrupt seine Geschwindigkeit, ohne mit einem neuerlichen Signal auf seine freie Fahrt zu pochen. Die Polizei, die in einem Streifwagen gleich hinter der Bahn fährt, sieht’s und schweigt.

„Gewisse Unschärfe“

Was aber wäre, wenn? Was, wenn es, was nicht zu wünschen ist, zu einem Unfall käme? Praktiker der Polizei, aber auch Fachanwälte stützen die These von Kleine-Möllhoff: ein Fußgänger, der selbst an der Furt sich den Überweg im Glauben an ein Vorrecht erzwingen würde, bekäme eine Mitschuld an einem Unfall.

Tatsächlich, und zum Glück, ist noch nichts passiert, und wenn alle Verkehrsteilnehmer bei geringer Geschwindigkeit Obacht walten lassen, könnte das auch so bleiben und dem Ziel wäre Genüge getan. Das ändert aber nichts daran, dass die Regelung an der Leineweberstraße eine „gewisse Unschärfe“ beinhaltet, wie die NRZ schon am Tag nach der Einweihung schrieb.

Die wird auch in offiziellen Stellungnahmen spürbar. Auf die Frage, wer an der Leineweber nun Vorrang habe, Auto oder Fußgänger, verweist die Polizei-Pressestelle etwa auf die im Paragraphen 1 der Straßenverkehrsordnung festgeschriebene gegenseitige Rücksichtnahme. Durch das erhöhte Niveau am Kohlenkamp werde dem Autofahrer zudem „signalisiert“, dass er hier vermehrt mit Fußgänger rechnen und Vorsicht walten lassen müsse. Aber: Auch ein Fußgänger könne einen Autofahrer „nicht zum Stehen bleiben zwingen.“ Und, ja, räumt der Sprecher ein, das alles biete weniger Schutz als beispielsweise ein Zebrastreifen.

Stadtsprecher Volker Wiebels betonte gestern ebenfalls noch einmal: „Hier gilt die gegenseitige Rücksichtnahme.“ Das heißt Blickkontakt aufnehmen, sich verständigen und erst, wenn das Fahrzeug hält, gehen. Ähnlich pragmatisch sehen das Fahrlehrer. „Im Zweifel rate ich meinen Schülern, hier stehen zu bleiben“, sagt Ulrich Feldkamp gegenüber der NRZ. Da der Autofahrer der Stärkere sei, müsse er eben Rücksicht nehmen.

Keine andere Möglichkeit

Die Frage aber bleibt: Wenn das so gewollt und die den Fluss hemmende Ampelschaltung unerwünscht war, warum ist es dann nicht klarer geregelt worden als durch ein Tempo 20-Schild? Die Antwort, für die ein Blick in die Straßenverkehrsordnung hilfreich ist, offenbart ein Dilemma: Weil die gängigen Instrumente an just dieser Stelle nicht gegriffen hätten. Für einen Zebrastreifen gibt es viel zu viel Autoverkehr an der Leineweber - unmöglich. Einer verkehrsberuhigten Zone stehen die Bahngleise und die Funktion der Leineweber- als Durchgangsstraße im Wege und die Ausweisung als verkehrsberuhigter Geschäftsbereich gestattet nur eine Geschwindidkeitsbegrenzung, ändert aber an den auf Fußgänger und Autofahrer gleichmäßig verteilten Rechten und Pflichten der Straßenverkehrsordnung nichts.

So entschied man sich zu einer Lösung, in der die gefühlten Regeln des Alltags hoffentlich die Oberhand behalten. Man könnte es eine Lösung der praktischen Vernunft nennen. Bislang hat das geklappt, genau wie am neuen, schilderbefreiten Heißener Kreisverkehr, den sich die Fußgänger ebenfalls gleichsam erobert haben - ohne dass es dafür eine eindeutige Rechtsgrundlage gäbe.

Genaueres müssten sonst Schilder regeln. Wie gesagt, ein Dilemma.