86 Prozent der Mülheimer leben gerne in der Stadt. Das zeigt das Bürgerbarometer. Der Mülheimer meckert aber auch gerne. Was die Stadt so liebenswert macht, das erklärt Ernst Haiger, der sein Leben lang immer wieder gerne in seine Heimat zurückkommt.
Vor einigen Wochen ging Ernst Haiger zum Klassentreffen. Alle zwei Jahre treffen sich die alten Klassenkameraden. Mittlerweile sind die Herren alle so wie Haiger über 70. Vieles hat sich in ihrer Stadt seitdem verändert. Ihre alte Schule etwa, das Staatliche Gymnasium, ist heute nach Otto Pankok benannt. Allerdings auch schon seit fast vier Jahrzehnten. Man muss sich diese Zeitspanne schon vor Augen führen, wenn diese Herren von dem Mülheim von damals sprechen. Besser gesagt: sie schwärmen. Und bei allem Hang zur Verklärung, der ja auch den Teilnehmern solcher Zusammenkünfte selbst bewusst ist, wird eines klar: Sie hängen an dieser Stadt. „Nur noch drei von uns leben in Mülheim, der Rest wohnt woanders“, berichtet Haiger. Alle zwei Jahre kommen sie hier hin, um sich zu treffen. Was macht sie so anhänglich gegenüber der Stadt?
Ernst Haiger, der genau über diese Frage mit seinen Schulkameraden gesprochen hat, erzählt eine Episode: „Ein Schulfreund lebt mit seiner Frau schon seit sehr vielen Jahren in Süddeutschland. Er würde sehr gerne wieder hierher zurückziehen, aber seine Frau will nicht. Er setzt aber zumindest durch, dass wenigstens einmal im Jahr die Stadt besucht wird. Denn hier fühlt er sich richtig wohl. Und das ist bei ihm auch wirklich keine Verklärung. Wenn er könnte, wie er wollte, würde er sofort wieder hierhin ziehen.“ Daran könnten auch die Klagen über den desolaten Zustand der Innenstadt nichts ändern. „Darüber wurde natürlich auch gesprochen, und manche meinten auch, dass es im Vergleich zu 2011, als sie sich zuletzt trafen, schlimmer geworden sei.“ Aber trotzdem ist Mülheim für viele von ihnen immer noch ein Sehnsuchtsort. Das entspricht der Stimmung des Bürgerbarometers, wo 86 Prozent der Befragten sagen, dass sie gerne in Mülheim leben.
Auch Ernst Haiger ist dieser Meinung. Der 73-Jährige hat dabei aber noch eine andere Perspektive auf diese Frage. Einerseits wohnt er immer noch an der Friedrichstraße, wo er schon aufgewachsen ist. Er pendelt aber auch regelmäßig nach Berlin. Er hat auch noch einmal eine eigene Perspektive auf diese Frage. Warum zieht er nicht ganz in die Hauptstadt, was zieht ihn immer wieder zurück an die Ruhr.
Die Antwort ist klar: Es ist eben genau die Ruhr. Haiger stammt aus einer Mülheimer Familie, ist geschichts- und damit heimatbewusst, was seine Vaterstadt angeht. Seine Eltern haben sogar eine Zeit im Schloß Broich gewohnt. Kein Wunder, wenn man dann zum Lokalpatrioten wird. Doch das, was Haiger wirklich an die Stadt bindet, ist eben nicht das Schloß und auch nicht der Petrikirchenturm. „Das lässt sich ja alles durchaus vorzeigen. Aber wenn ich zurückkomme, dann freue ich mich am meisten auf die Natur.“
„Da, wo ich wohne, wohne ich sehr gern“, betont Haiger. „Von der Friedrichstraße aus bin ich mit dem Fahrrad in kurzer Zeit am Auberg oder eben an der Ruhr. Vergleichbares wäre in Berlin nicht vorstellbar. Das ist tatsächlich eine hohe Lebensqualität.“
Die Natur, so ist sich Haiger sicher, ist das Kapital von dem Mülheim zehren kann. „Leider ist der Grünanteil nicht mehr so hoch wie in meiner Jugend. Zuviel ist zugebaut worden. Das zeigt sich ja aktuell an der Diskussion über die Frischluft-Zufuhr.“ Mülheim sei zwar immer noch grüner als andere Ruhrgebietsstädte, aber aus Haigers Sicht ist es merklich zurückgegangen. „Grundsätzlich war es vollkommen richtig, die Ruhr in den Mittelpunkt von Ruhrabia zu stellen.“ Und die Umsetzung? Tja, da sei er doch sehr skeptisch. Müssten es immer so große Neubauprojekte wie Ruhrbania sein? „Ich finde es eigentlich besser, in das zu investieren, was schon da ist.“
Ein Beispiel: der Wasserbahnhof. „Das ist ein Ort den in Mülheim sowieso, aber auch in den umliegenden Städten jeder kennt. In den 60er Jahren standen dort zum Beispiel richtige Palmen. Das wirkte vielleicht früher exotischer als heute. Aber für mich steht dahinter der liebevolle Blick für das Detail, das Atmosphäre schafft.“ Und Haiger fügt hinzu: „Wenn ich mit anderen spreche, sehen die das genauso.“
Und damit ist auch ein anderer Punkt angesprochen, was Mülheim für ihn ausmacht: Die Übersichtlichkeit. Man kennt sich, man spricht miteinander.
„Mülheim zeichnet das kleinstädtische Flair aus. Es ist übersichtlich.“ Als Beispiel nennt Haiger die Altstadt und den Kirchenhügel: „Das kann sich doch sehen lassen.“
Gewiss, auch er will das City-Problem nicht leugnen. „Ich bin auch eher der Ansicht, dass es in den nächsten zehn Jahren nicht besser wird.“
Aber wie er es sieht, ist für Haiger auch nicht die City das Herz dieser Stadt. Das ist nämlich grün und schlägt an der Ruhr. „Ich bin überzeugt, dass gerade dieser Grünanteil die Stadt attraktiv für Zuzüge macht.“ Um die würden doch alle Städte konkurrieren, Mülheim gibt Haiger durchaus Chancen. Auch glaubt er, dass bei aller Frustration, doch eine große Bindung der Bürger an ihre Stadt bestehe. Aber wie kann man die neu aktivieren?
„Es hängt, glaube ich, tatsächlich viel von den Details ab. Zum Beispiel davon, wie öffentliche Bepflanzungen aussehen. Sind das nur Durchschnittspflanzen oder setzt man da wirklich etwas Höherwertiges ein. Das kostet natürlich Geld, aber solche Kleinigkeiten prägen das Stadtbild. Ähnlich ist es mit Graffiti. Ich ärgere mich jedes Mal darüber.“ Es käme eben auf den Gesamteindruck ein. „Die Menschen wollen sich wohlfühlen.“ Und deswegen, so ist sich Haiger sicher, würden sie diese vermeintlichen Nebensächlichkeiten schätzen. „Vor allem dann, wenn man erkennt, dass dahinter ein liebevoller Blick auf die Stadt steht.“ Und vielleicht, so lässt Haiger erkennen, würde so eine Haltung der Stadt die Bürger mehr beeindrucken, als aufwendige Großprojekte. Aber genau diesen Blick vermisst er. Woher er ihn hat: „Früher, als wir Kinder waren, da gab es für uns keinen Spielplatz. Das wäre auch viel zu langweilig gewesen. Wir haben die Stadt erkundet. Das war für uns ein großes Abenteuer.“ Wenn der 73-Jährige dies erzählt, wird klar, woher seine emotionale Bindung an seine Stadt stammt. „Früher musste man keine großen Urlaube machen. Erholung hat man vor der Haustür gehabt. Heute sind vielleicht die Ansprüche gestiegen.“ Jedenfalls sei der Grünanteil, wenn auch gesunken, immer noch sehr hoch. Jetzt gelte es darauf zu achten, dass er nicht weiter zurückgefahren wird, denn daran hänge das Lebensgefühl dieser Stadt.