Das Wort des Philosophen Ludwig Wittgenstein ist viel bemüht und oft missverstanden worden. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, so hatte er 1921 eines seiner Hauptwerke eingeleitet (Wer auf schwere Kost steht: Tractatus Philosophicus). Nun war Wittgenstein erstens Österreicher und zweitens assimilierter Jude. Gleichwohl hätte er am Mittwochabend an der Presbyterialversammlung der evangelischen Kirche in Mülheim seine helle Freude gehabt. Mehrere Stunden hatten Haupt- und Ehrenamtler zusammengesessen, um über den Entwurf für ein Zukunftskonzept zu sprechen. Anschließend wollte niemand mehr so recht sprechen. Was viele Pfarrer und Presbyter sprachlos macht, folgt dem Wittgenstein’schen Sinne: Über den Entwurf, den die NRZ vorgestern vorgestellt hat, lässt sich nichts Genaues sagen.

Dabei hinterließ der Abend viele Teilnehmer ratlos - und in großer Sorge.

Drei Jahre lang hatte eine Arbeitsgruppe aus Haupt- und Ehrenamtlern um die stellvertretende Kirchenkreisleiterin Dagmar Tietsch-Lipski an dem Papier geschrieben, das die Einnahmen mit den Ausgaben, aber auch mit den Aufgaben in Einklang bringen sollte. Die Gründe sind handfest. Zwar entwickelt sich die Kirchensteuer, der Konjunktur sei Dank, freudvoll über den Erwartungen, kann Mülheim immer noch, gerechnet auf 57000 gemeldete evangelische Christen, ein Pro-Kopf-Aufkommen von über 140 Euro vorweisen (zum Vergleich: in Essen sind es etwa 70 Euro).

Die Einnahme aber trügt, wie es Mittelwerte meist tun. Es gibt auch „arme“ Gemeinden und zweitens einen Kirchenkreis, der beständig ein Defizit produziert. Bis 2016 reichen die Rücklagen, um das auszugleichen. Danach nicht mehr.

Der Prozess an sich war also unstrittig sinnvoll, hatte aber auch die Funktion, den Dauerkonflikt zu vertagen, der sich seit langem in der Synode zeigt; den einen gehen die Gemeinden über alles, vor allem über den Kirchenkreis, den anderen sind übergemeindliche Angebote wichtiger und dazwischen sitzen die Gemäßigten, die vom Kirchenkreis aber eine Vorleistung, eine Sparbemühung erwarten. Der Entwurf nun klärt diese Konfliktlage nicht, er verlängert sie nach Ansicht vieler nur, kürzt und streicht nach Zahlen- und Ertragslage. Im Kern steht die Kirche damit da, wo sie vor drei Jahren auch stand. Und das heißt: vor der offenen Frage, wofür es evangelische Kirche eigentlich nun genau braucht. Und erst danach in welcher Form, an welchen Orten, mit welchen Angeboten, mit wievielen und welchen Pfarrern. Dass das Papier genau dort den 1,1 Millionen Euro dicken Rotstift ansetzt, wo selbst kirchenferne Menschen Beistand, Hilfe oder das Gespräch brauchen, also in Notfall- und Krankenhausseelsorge oder in der Familienbildungsstätte, hat auch den Mittwochabend rasch ins Grundsätzliche geführt - ohne dass die Arbeitsgruppe eine solche Debatte zugelassen hätte. Stattdessen durften Teilaspekte in Kleingruppen besprochen und Anmerkungen auf Karteikarten notiert werden. Daraus will die Arbeitsgruppe bis zur Synode, die eigentlich am 23./24. Mai eine Grundsatzentscheidung treffen muss, einen Entwurf 2.0 unbekannter Gestalt erarbeiten.

Bleibt es bei diesem Fahrplan, kämen grundsätzliche Erwägungen auch dann erst zur Aussprache. Für viele, die den Altenhof am Mittwochabend verließen, ein verstörendes Unding. Denn was auch immer die Synode entscheidet: Es wird Gestalt und Gesicht der evangelischen Kirche auf Jahre hinaus prägen. Aber jedem ist klar: Den Fahrplan zu ändern, hieße den Konflikt zu vergrößern, erforderte einen Gegenentwurf, inhaltlich, womöglich personell.

Das hatte am Mittwoch keiner. Da schweigt man besser. So hatte es auch schon Superintendent Helmut Hitzbleck gehalten, dessen Skepsis an Methode und Ergebnis ebenfalls bekannt ist. Die spannende Frage ist: Wie lange währt das Schweigen?