Auch die längste Wartezeit geht einmal zu Ende; die der evangelischen Kirche in Mülheim endet beispielsweise genau heute. Heute Abend kommen die Spitzen der Gemeinden und Einrichtungen in der Presbyterialtagung zusammen, um über ein Papier zu beraten, das seine Brisanz im Titel gut kaschiert: „Zeugnis und Dienst in der Nachfolge Jesu Christi“ ist es überschrieben, enthält aber nichts weniger als einen Zukunftsentwurf für die evangelische Kirche. Einen, den die Zahlennot diktiert. Die erhebliche Summe von 1,1 Millionen Euro sollte das Konzept aus den Haushaltsbüchern der 57000 Mitglieder zählenden Kirche herausschneiden. Auf dem Papier ist das gelungen. Damit könnte sich der Konsens heute Abend aber auch schon erschöpft haben.

Drei Jahre lang hat eine Steuerungsgruppe aus einigen Haupt- und Ehrenamtlern an dem Entwurf gefeilt, angeleitet durch einen Moderator. Wieder und wieder, zuletzt auf der Herbstsynode, wurden „konzeptionelle Überlegungen“ vorgestellt, Fragen benannt, wie etwa die, welche Arbeitsfelder wem wie wichtig sind. Bildung vor Mission? Kirchenmusik vor Notfallseelsorge? Familienbildungsstätte vor Gemeindediakonie? Pfarrstellen vor gesellschaftlicher Verantwortung? Schon in dieser Wartezeit gab es in den Gemeinden Stirnrunzeln, weil jedem klar war, dass aus Prioritäten irgendwann Zahlen werden müssen (s. Kasten). Jetzt gibt es die Zahlen - und mancher fragt, wo sich darin die Prioritäten verbergen. Er freue sich auf die heutige Diskussion, sagte diplomatisch ein Presbyter - und meinte damit, dass das Papier den vorhandenen Denk- und Richtungsstreit wohl kaum beenden, sondern eher befeuern wird.

Kompromiss in höchster Not

Dabei war die Steuerungsgruppe mit genau diesem Auftrag angetreten, als Superintendent Helmut Hitzbleck sie im Mai 2011 auf den Weg schickte. Zu der Zeit hatte der innerkirchliche Konflikt seinen Höhepunkt erreicht. Unstrittig war nur, dass Kirche insgesamt mit weniger auskommen muss, mit weniger Geld, weniger Mitgliedern, weniger Personal, weniger an Gebäuden und womöglich mit weniger Dienstleistungen. Ab wer gibt was ab? Mehr Zentralisierung oder weniger? Die Synode, das höchste Gremium, war gespalten. Die einen wollten - und wollen - die übergeordneten Angebote stärken, auch die an Nichtmitglieder, die anderen sahen und sehen in den Gemeinden den Hort allen segensreichen Wirkens. Der letztlich erfolgreiche Kampf der Gemeinde in Winkhausen um Eigenständigkeit nährte diese Debatte zusätzlich.

Nur mit der Einrichtung der Steuerungsgruppe konnte Hitzbleck verhindern, dass Anträge auf Halbierung der Familienbildungsstätte, auf Aushöhlung von Flüchtlingsreferat, Öffentlichkeitsarbeit und Ladenkirche knapp scheiterten. Jetzt muss es darüber zum Schwur kommen. Und der Entwurf bietet, zum Erstaunen vieler, nicht übermäßig viele Ansatzpunkte für Konsens. „Die Antworten sind nicht bis zu Ende durchgerechnet“, sagte ein Mitglied der Presbyterialtagung. „Die alten Fragen werden die neuen sein.“

Zwei Beispiele: Die Familienbildungsstätte soll dezentralisiert und ihr Zuschuss um ein Viertel gekürzt werden. Die wegfallenden Synergieeffekte und die Investitionskosten für eine Dezentralisierung sind aber nicht gegengerechnet. Beispiel zwei: Den Löwenanteil der Einsparungen entfällt auf 720000 Euro durch eine neue Pfarrstellenkonzeption. Im Klartext: weniger Pfarrer. Woher diese Summe perspektivisch kommen soll, wo doch arbeitsrechtlich die Abrede gilt, nur ausscheidende Pfarrer nicht zu ersetzen, lässt das Papier offen. Mehr noch: Die verbreitete Skepsis über den Weg der katholischen Kirche, die Personalkosten zum Hebel ihres Schrumpfkurses gemacht hat und vielleicht machen musste, bleibt außen vor.

Die Tagung am heutigen Abend ist nichtöffentlich. Das Licht der Öffentlichkeit soll die Konzeption bei der Synode im Mai erleben - mit Beschlussfassung, so war es geplant. Ob das so zu halten ist oder ob und wie das Papier zu halten ist, darüber wird der Mittwoch aber Zeugnis ablegen.