Eppinghofen/Saarn. . Was Mülheimer Unternehmer kürzlich aussprachen, analysiert die Stadt seit Jahren. Im Blick hat sie dabei vor allem die Lebensbedingungen von Kindern. Die Unterschiede in den Stadtteilen sind enorm. Sozialdezernent Ernst: „Da liegen Talente brach, die wir heben müssen“

Beim „Katerfrühstück” der Unternehmer am Aschermittwoch legte Vorsitzender Hanns-Peter Windfeder das Thema auf den Tisch: Mülheim geht’s gut. Aber nur im Durchschnitt. Im Detail betrachtet, ist die Stadt gespalten in einen armen Norden und einen reichen Süden. Er rief die Firmenchefs auf, sich um Kinder in gefährdeten Bezirken zu kümmern, Talente zu finden und zu fördern. Bei Sozialdezernent Ulrich Ernst rannte er damit offene Türen ein. Die Stadt kennt die Problematik, analysiert sie seit Jahren und arbeitet an Werkzeugen, die Lebenslage vor allem von Kindern in benachteiligten Stadtteilen zu verbessern. Die WAZ sprach mit Ulrich Ernst sowie den Stadtforschern Volker Kersting und Thomas Groos über Befunde und Chancen. Kersting: „Alles auf grün: Das schaffen wir nicht. Weniger Rot: Das ist unser Ziel.”

Auch wenn die Analyse stimmt: Ist es nicht gefährlich, ganze Stadtteile als benachteiligt zu brandmarken?

Ernst: Nein. Wir sind für den Antritt von Hanns-Peter Windfeder sehr dankbar. Das Thema treibt uns schon seit Jahren um. Wir beleuchten die Situation ungeschminkt, schildern sie drastisch und wollen auch darüber reden. Styrum, Eppinghofen und die Innenstadt sind unsere Brennpunkte. Das ist auch kein Thema für Sozialromantiker.

Beschreiben Sie mal die Situation!

Kersting: Mülheim ist reich an Kaufkraft und ebenso reich an sozial schwierigen Lagen, also durchaus eine gespaltene Stadt. Wenn wir auf einer Karte schlechte Sozialdaten rot markieren und gute grün, haben wir immer einen Norden und einen Süden. Egal, welche Kennzahlen wir nehmen: Die Karte sieht immer gleich aus.

Ernst: Und diese Spaltung ist in kaum einer Stadt so ausgeprägt.

Ein paar Beispiele bitte!

Kersting: Im Westen von Eppinghofen beziehen 57 % der Kinder unter drei Jahren Sozialgeld, in Styrum und der Altstadt 40 bis 50 %. Im Süden sind es oft unter 10 %.

Ernst: . . . und der Bezug von Sozialgeld ist für ein Kind schon eine ganz schlechte Startbedingung.

Groos: Im Norden haben Eltern im Mittelwert weniger als zwölf Bildungsjahre – also Schule und Berufsausbildung – im Süden sind es 15 bis 17 Jahre. In Eppinghofen und Teilen von Styrum haben mehr als die Hälfte der Kinder bei der Einschulung Sprachschwierigkeiten, im Süden sind es oft weniger als 10 %. In einigen Vierteln sind 40 bis 60 % der Kinder in keinem Sportverein, im Süden allenfalls 20 %.

Gibt es Gründe für diese Spaltung?

Ernst: Vereinfacht gesagt: Irgendwann sind aus den heute benachteiligten Stadtteilen die weggezogen, denen es besser ging. In die Wohnungen sind dann Menschen nachgezogen, die preisgünstige Wohnungen benötigten. So entstehen Konzentrationen von Benachteiligung. Und wo viele Menschen mit vielen Problemen sind, verstärken sich die Effekte.

Groos: Entscheidend ist letztlich die niedrige oder hohe Bildung der Eltern. Bei niedriger Bildung sind Auffälligkeiten der Kinder – Sprachmängel, Übergewicht, keine Mitgliedschaft im Sportverein und zu viel Medienkonsum – zwei- bis dreimal stärker ausgeprägt.

Spielt es eine Rolle, ob ein Kind ausländische Eltern hat?

Kersting: Nein, abgesehen von der Sprachentwicklung hat das keine Auswirkung auf die Chancen von Kindern. Ausschlaggebend ist allein der soziale Hintergrund der Eltern. Über einen Zusammenhang von Benachteiligung und Migrationshintergrund zu sprechen, lenkt den Blick in die falsche Richtung.

Hat eine Stadt wirklich Chancen, der sozialen Spaltung zwischen Stadtteilen entgegenzuwirken?

Ernst: Dass Kinder aus gefährdeten Familien ein benachteiligtes Leben führen, ist kein Naturgesetz. Auf dem Weg gibt es viele Variablen. Die Herausforderung für uns lautet: Wo sind die Stellschrauben, mit denen wir etwas ändern können? Das geht für uns auch über Prävention hinaus. Wir wollen nicht nur verhindern, dass Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Wir wollen, dass sie einen guten Weg ins Leben finden.

Wie soll das konkret gehen?

Ernst: Wir bauen seit einiger Zeit eine Kette auf zur Begleitung von Kindern und ihren Familien von 0 bis 25. Unsere Familien-Hebammen sind ein Baustein, das Projekt Wellcome, die Familienbesuche durch Caritas und Jugendamt oder „Opstapje“. Und wir unterstützen unsere Kindergärten und Grundschulen dabei, dass die Kinder gute Lernerfolge erzielen können. Die Kette reicht bis zum U25-Haus.

Haben Sie Erfolge mit ihren Bemühungen um benachteiligte Kinder?

Kersting: Ja. Die Teilnahme von Eltern an der Vorsorgeuntersuchung U9 für ihre Kinder konnten wir deutlich steigern, von etwas mehr als 80 auf jetzt 95 %. Wir sind da ganz schlecht gestartet und liegen seit 2009 deutlich über dem NRW-Durchschnitt. Das zeigt: Man kann etwas bewirken.

Ernst: Gute Erfolge verzeichnen wir auch beim Übergang von der Schule in den Beruf. Die Quote der Hauptschüler, die von der Schule in eine Ausbildung wechseln, konnten wir von 17 auf 40 % steigern, die Quote der Langzeitarbeitslosen unter 25 liegt bei einem Prozent, im NRW-Schnitt sind es fünf Prozent.

Unternehmenssprecher Hanns-Peter Windfeder hat angekündigt, dass sich Mülheimer Betriebe für benachteiligte Kinder engagieren wollen. Sie begrüßen das?

Ernst: An der Spaltung unserer Stadt etwas zu ändern – das ist ein Gemeinschaftswerk. Da können alle mitmachen. Wir werden gemeinsam überlegen, wer was dazu beitragen kann.

Um die Spaltung irgendwann zu überwinden. . . ?

Ernst: Die Pole aufzuheben – das werden wir nicht schaffen. Aber wir können Stück für Stück Veränderungen erreichen. Auf einen Teil der Gesellschaft zu verzichten – das können wir uns gesamtgesellschaftlich und volkswirtschaftlich gesehen gar nicht leisten. Da liegen Talente brach, die wir heben müssen und können.