Dass 1000 von 1873 Altenheimbewohnern die Kosten ihrer stationären Pflege nicht mehr selbst bezahlen können und die Stadt mit 15 Millionen Euro dafür einspringen muss, lässt auch Mülheims Sozialdezernenten Ulrich Ernst nicht kalt. Im Gespräch mit der NRZ macht er deutlich, dass die Pflege nicht preiswerter wird, aber auch nicht nur finanzpolitisch betrachtet werden darf. Worauf muss sich also eine Stadtgesellschaft einstellen, in der schon heute fast jeder Vierte über 65 ist?
Ist ein stationäres Pflegesystem, in dem immer mehr Menschen zu Sozialfällen werden, noch tragfähig?
Das ist schon eine kuriose Situation. Ich sehe vor allem die Gefahr, dass die mittlere Generation von den Unterhaltskosten für ihre Kinder und ihre pflegebedürftigen Eltern zerrieben werden, zumal wenn sie auch noch für das eigene Alter vorsorgen soll. Aus diesem Risiko müssen wir die Leute rausnehmen, wenn wir nicht langfristig unseren Mittelstand kaputt machen wollen.
Warum macht das finanzielle Risiko den Mittelstand kaputt?
Natürlich müssen Kinder im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten für die Pflegebedürftigkeit ihrer Eltern einstehen, ehe der Sozialstaat einspringt. Aber wenn das Geld, was man vielleicht fürs Alter gespart hat, auf diesem Weg schon weg ist, ehe man selber alt ist, setzt das Menschen einer extremen Verunsicherung aus und stellt ihre Lebensleistung in Frage. Und das untergräbt in letzter Konsequenz auch das Vertrauen in das Wohlstandsprinzip unserer Gesellschaft und ihre demokratische Grundordnung.
Warum kann die stationäre Pflege nicht einfach preiswerter werden?
Ich sehe da keine Kostensenkungspotenziale. Denn gute Pflege kostet Geld und wird in Zukunft eher mehr Geld kosten. Denn wir haben schon jetzt einen Fachkräftemangel und brauchen qualifizierte Altenpfleger, die heute eher zu wenig als zu viel verdienen. Auch die Altenheime machen keinen großen Schnitt, sondern arbeiten eher defizitär.
Könnte der Ausbau der ambulanten Pflege ein preiswerte Alternative sein?
Wenn man sieht, wie viele ambulante Pflegedienste es heute gibt, merkt man, dass die „Ambulantisierung“ der Pflege in den letzten Jahren schon gegriffen hat. Natürlich gibt es gute Beispiele für ambulante Pflege im Quartier. In Bielefeld gibt es zum Beispiel ein Haus, in dem Menschen mit und ohne Pflegebedarf zusammen wohnen und die Möglichkeit haben, im Pflegefall, ihre Wohnung ohne großen Aufwand barrierefrei umzubauen und mit einem Pflegedienst, der direkt im Haus sitzt einen individuellen Pflegevertrag zu schließen.
Kann das die teure Pflege im Altenheim verhindern?
Es kann sie zumindest lange hinausschieben, wobei ich mir keine Illusionen darüber mache, dass im Falle einer Schwerstpflegebedürftigkeit am Ende doch die stationäre Pflege als letzte Möglichkeit in Frage kommt. Hier geht es aber in der Regel dann nicht mehr um Jahre, sondern vielleicht um Monate.
Wird menschenwürdige Pflege am Ende unbezahlbar?
Daran entscheidet sich die Humanität unserer Gesellschaft, wie wir am Anfang und am Ende des Lebens mit den schutzbedürftigsten Menschen, nämlich den Kindern und den pflegebedürftigen alten Menschen umgehen. Die Menschen brauchen keine finanzpolitischen Diskussionen, in denen sich Bund, Länder und Kommunen gegenseitig ausspielen. Sie brauchen eine Lösung ihres Problems, damit sie sich am Ende nicht aus dem System verabschieden.
Und das muss irgendwie bezahlt werden.
Dieses Problem müssen Sozialversicherungsexperten bearbeitet und dann müssen Lösungen politisch umgesetzt werden.
Dabei sollte man vorurteilsfrei alle möglichen Modelle prüfen. Das könnte ein Pflege-Soli, also eine steuerfinanzierte Pflege sein. Das könnte aber auch eine für alle Bürger verpflichtende Pflegeversicherung auf einer breiteren Berechnungsgrundlage sein.