Mülheim. . Dr. Nicole Lobeck-Chenard, Anja Bölling und Anne Peters haben ein cleveres und interaktives Spiel- und Lernbuch für angehende Grundschüler entwickelt. Für das Projekt des Gesundheitsamtes werden jetzt Geldgeber gesucht.

Seit 2008 hat jedes i-Dötzchen in Mülheim (bisher rund 10.000 Kinder) bei der Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt ein Buch bekommen, für manches Kind das erste überhaupt. Jetzt geht das bundesweit einmalige Projekt in eine neue Runde: Die Initiatorin Dr. Nicole Lobeck-Chenard hat eine Kinderbuchautorin und eine Künstlerin gewonnen, eine Mülheimer Fassung für ein Lern- und Spielbuch zu gestalten. Der Prototyp ist fertig, jetzt werden Geldgeber gesucht.

Die Buchgeschenke haben einen ernsten Hintergrund: Der Leiterin des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes fällt bei den Untersuchungen auf, dass die Sprachkompetenz der Beinahe-Grundschüler schwächer wird. Ihre Diagnose: Die Vorlesekultur in Familien schwindet, Fernseher, i-Pad und Handy-Apps beeinflussen Freizeit und Sprachentwicklung schon von kleinen Kindern. Ihr Rezept für den Beginn einer Behandlung: Ein Buch zum Vorlesen, Ausmalen und Spielen, ein „cleverer, positiver Kick” für die Kids, sagt Lobeck-Chenard.

Mit Geschenk ein Malwettbewerb verbunden

Damit sich Kinder und Eltern mit dem Buch auseinandersetzen, ist mit dem Geschenk ein Malwettbewerb verbunden. Immer, wenn ein paar hundert Kinder das Buch erhalten haben, werden zehn Gewinner ausgewählt und zu einer kleinen Feier eingeladen. Erst vor ein paar Tagen kam die zwanzigste Runde mit Eltern und Kindern zusammen. „Die Stadt ist stolz auf euch”, sagte Bürgermeisterin Renate aus der Beek dabei den Kindern.

Bisher wurden die fertigen Bücher bei Verlagen gekauft. Es gibt welche für Jungs und für Mädchen, es geht darin um Piloten und Prinzessinnen. Demnächst aber soll es um die Ruhr gehen, um Schloss ­Broich oder die Camera Obscura.

Im neuen Buch geht es um Mülheim

Die Kunstlehrerin Anne Peters und die Kinderbuchautorin Anja Bölling (beide lernten die Ärztin durch die Schuluntersuchungen ihrer Töchter kennen) haben in drei Jahren ein neues Buch für dieses Projekt entworfen, immer orientiert an den Hinweisen von Lobeck-Chenard. Die liebevoll gestalteten Seiten reizen und fördern unterschiedliche Fähigkeiten – Feinmotorik und Farbenlehre, Konzentration und Gefühl für Mengen. Ganz bewusst steht die Ruhrstadt auf vielen Seiten im Mittelpunkt. Peters: „Wir wollen die Familien auch animieren, Mülheim zu entdecken.“

„Fernsehen macht Kinder sprachlos“

Frau Dr. Lobeck-Chenard, die Sprachkompetenz der Kinder wird schlechter – wie äußert sich das?

Manche Kinder können mit fünf Jahren keine Drei-Wort-Sätze bilden, zunehmend registrieren wir schwache Grammatik-Kenntnisse und falsch zugeordnete Artikel. Die Kinder wissen nicht mehr, wozu Der-Die-Das gehört.

Kennen Sie die Ursachen?

Die Vorlesekultur in den Familien schwindet. Es gibt Kinder, die gar kein eigenes Buch haben. Ein weiterer Grund ist der Fernsehkonsum. Die schnellen Bilder der Zeichentrickfilme geben einen Kick. Aber sie machen sprachlos. Ob ein Kind aus einer deutschen oder einer ausländischen Familie kommt, ist dabei unwichtig. Es geht eher darum, wie gestresst die Eltern sind durch Familienalltag und Beruf. Statt den Kindern vorzulesen, wird der Fernseher angeschaltet. Und: Das ist eher ein Problem in Ballungsräumen als in ländlichen Gegenden.

Bücher sind das richtige Rezept gegen diese Sprachlosigkeit?

Ja, wir wollen den Eltern damit die Initiative geben. Es muss eben nicht der Fernsehcomic sein. Sie sollen mit den Kindern lesen, verstehen, für unseren Wettbewerb malen und so auch kreativ sein. Das Projekt kommt bei den Vätern und Müttern gut an. Wir erfahren, dass sie diese Bücher wertschätzen. Mit dem Wettbewerb bekommen wir pro Jahrgang 250 Bilder zurück.

Das Projekt hat seinen Preis . . .

Leider. Pro Jahrgang mit 1400 Kindern brauchen wir 12 000 Euro. Gerade jetzt, wo wir ein eigenes Mülheim-Buch entwickelt haben, zieht sich die Stinnes-Stiftung aus der Finanzierung zurück. Ich hoffe, dass wir neue Geldgeber finden.

Entstanden ist in der Zusammenarbeit der drei Frauen ein zauberhaftes Buch voller Spielmöglichkeiten. Ein Buch, das die Kinder benutzen können. Sie sollen darin malen, Blumen pressen und aufkleben, mit dicker Farbe Handabdrücke machen, gemeinsam mit ihren Eltern einen lustigen „Ich“-Fragebogen ausfüllen, auf einem eingeklebten Wattebausch Kressesamen sprießen lassen, das alles auf bunten, liebevoll gestalteten und getexteten Seiten. Löbbing: „Wir wollten ein Buch machen, das Kinder über längere Zeit begleitet, aus dem sie ein individuelles machen können.“ Alle Seiten wurden von Kindern getestet und für gut befunden.

Gesucht werden jetzt Geldgeber. Mit allen aufwendigen Gags (Spiegelfolie, Wattebausch, aufklappbarer Schmetterling) würden die Mülheim-Bücher für einen Jahrgang i-Dötze 12.000 Euro kosten, eine Sparversion ohne „Spezialeffekte“ ist für 5000 Euro zu haben.