Das Vorhaben scheint zu verblüffen. Jeder, dem Sven Schlötcke und Jörg Fürst erzählen, dass sie mit dem Seniorentheater an Elfriede Jelineks „Winterreise“ arbeiten, zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ach“ hören sie dann und einige fügen ein „wie soll das denn gehen?“ hinzu. So muss es auch der Rowohlt-Verlag gesehen haben, in dem das Werk der Literaturnobelpreisträgerin 2011 erschienen ist. Dass dieser Text von Laien gemeistert werden könnte, wollte sich dort wohl zunächst keiner vorstellen und ohne das Theater an der Ruhr im Rücken, hätten sie vom Verlag vermutlich nicht die Rechte erhalten, meint Schlötcke.

Ein Energiespender

Dabei geht es ganz ausgezeichnet. Jörg Fürst strahlt, wenn er von den Proben erzählt. Abgesehen von den Weihnachtsferien probt er mit den zehn Schauspielern, die im Durchschnitt Mitte 70 sind, seit Anfang Dezember fünf Mal die Woche und manchmal füge sich alles zu ganz wunderbaren Theatermomenten. Es ist die Kraft, die ihn beeindruckt, wenn die Alten ihre Stimme erheben. Mag es auch an der einen oder anderen Stelle an Technik mangeln. „Die Probenarbeit kostet nicht nur viel Energie, sie setzt auch große Energie frei“, sagt der 44-Jährige, und das gelte auch für ihn selbst.

Der Jelinek-Text ist natürlich auch ein Brocken: eine 77 Seiten lange Assoziationskette zum Thema Zeit, Alter und Vergänglichkeit und wie man es bei der 68-jährigen Autorin gewohnt ist, ohne Szenen und Personenzuschreibungen. Aus der Textfläche, die 2011 beim Stückefestival von den Münchner Kammerspielen in der Inszenierung von Johan Simons gezeigt wurde und mit dem Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, muss erst mühsam ein Stück kondensiert werden. Über die Zeit heißt es bei Jelinek: Sie gibt uns freigiebig, was kommt, sie nimmt uns gnadenlos, was war, sie nimmt uns das Vorbei, obwohl wir ständig an allem vorbeigehen. Wüßten wir, wie wichtig es einmal werden wird, wir würden stehenbleiben und es genießen, doch das geht nicht. Wir können nicht anders. Vorbei ist vorbei. Fragen Sie die Zeit! Sie wird es Ihnen bestätigen. Auch Demenz spielt in diesem teilweise sehr persönlichen Text, in dem Jelinek die Erkrankung ihres Vaters thematisiert, eine Rolle.

Eine ganz eigene Qualität

Wenn die alten Menschen diesen Text sprechen, bekomme das eine ganz eigene Qualität, die mit einem selbst entwickelten Text zu dem Thema, davon ist Fürst überzeugt, kaum möglich wäre. Viel zu groß wäre da die Gefahr, dass es pathetisch oder sentimental klinge, da die Distanz zum Thema fehle. Sie ermögliche erst Freiheit und Leichtigkeit. „Es ist wie eine Reise zum eigenen Ich.“

Fürst ist froh, dass sich das Ensemble dazu entschieden hat, erstmals einen bereits vorliegenden Text zu spielen. Der sichtbare Bruch mit der Tradition erleichtert ihm den Einstieg. Natürlich musste er schon mal den Satz hören, „Bei Friedl haben wir das aber anders gemacht.“ Insgesamt sieht er das Ensemble auf einem sehr guten Weg. „Alle haben große Lust und verausgaben sich regelrecht“, sagt Fürst. Seit September liest er mit der Gruppe den Text und entwickelt mit ihnen gemeinsam die Spielfassung. Der Liederzyklus Schuberts, auf den der Text immer wieder Bezug nimmt, spielt in der Inszenierung allerdings keine Rolle.

Für Schlötcke passt das Stück gleich in mehrfacher Hinsicht: Tradition und Aufbruch ist nicht nur das Thema für die Senioren selbst und das Theater, sondern auch für die ganze Stadt, „die gerne auch auf möglicherweise rosigere Zeiten zurückblickt.“ Er sieht das Potenzial der Schauspieler mit ihrem Erfahrungsschatz auch als Chance, aus der Nische herauszukommen und sich in einem Forum der Generationen über die Zukunft der Stadt auszutauschen. Hierzu werde die Volxbühne neben Inszenierungen und der Arbeit in den Schulen auch durch Konferenzen Akzente setzen.

Im Herbst mit dem zweiten Stück über Alter und Fremde will das Theater wieder zur eigenen Stückentwicklung und zu einer entspannteren Probenarbeit zurückkehren.

Gesucht werden auch neue Mitspieler, denn das Ensemble ist erkennbar in die Jahre gekommen. Es müssen nicht unbedingt Senioren sein. „Das war schon früher so, aber damit wurde auch nicht explizit geworben“, sagt Schlötcke.