Damals, 1994, hätte es auch anders kommen können. Jetzt sitzt Dieter Spliethoff für die SPD im Rat. Bevor er sich aber endgültig für ein Engagement in der Kommunalpolitik entschied, hatte er zuvor für den Stadtkatholikenrat kandidiert. Er wurde nicht gewählt. Für den 58-Jährigen ist das im Rückblick schon eine Weggabelung gewesen. Meine Werte habe ich bei den Pfadfindern gelernt. Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden. Er hätte sie gerne weiter in der Kirche umgesetzt. Aber er sagt auch: Das sind alles linke Werte. Genau so ein linkes Profil habe man aber damals in der Kirche offenbar nicht gewollt.

Das ist jetzt 19 Jahre her. In den letzten Tagen hat Spliethoff ein Dokument studiert, das ihn nachdenklich gemacht hat. Das ist fast so dick wie der Berliner Koalitionsvertrag, schmunzelt er. Aber ganz anders geschrieben. Ich habe bisher nur quergelesen. Aber die Offenheit hat mich überzeugt. Auch der liebevolle Ton, in dem da geredet wird. Dieter Spliethoff spricht vom der jüngsten Veröffentlichung von Papst Franziskus.

„Evangelii gaudium“ heißt es. Eine Gaudi kennt man eigentlich nur aus dem Bierzelt. Dem Papst geht es aber tatsächlich um Freude - die Freude am Glauben. Aber trotzdem will in bestimmten Bereichen der Kirche nicht so recht Stimmung aufkommen. Im Vatikan etwa, wo manche Angst haben, der frische Wind könnte sie von angestammten Machtpositionen wegfegen. Aber auch im deutschen Episkopat herrscht bisher ein verhaltener Ton. Wird auch hier der fröhliche Papst als Störenfried empfunden?

Franziskus lächelt zwar, aber er ist kein Schönredner. Sein Schreiben ist durchzogen von scharfer Kapitalismuskritik. Er spricht sogar von einer Wirtschaft, die töte. Kein Wunder, dass Dieter Spliethoff den Papst lieber liest als den Koalitionsvertrag. Denn beim Bischof von Rom findet er mehr von seinen „linken Werten“ als bei Merkel und Gabriel. Verkehrte Welt oder geht es jetzt erst richtig los?

Die Kirche ist hier viel zu unpolitisch. Die verwalten sich selbst. Dabei kann das doch nicht genügen. Wer tatsächlich von der frohen Botschaft begeistert ist, der kann gar nicht anders, als auch begeistern zu wollen. Und im Kern dieser Botschaft steht für Spliethoff: Caritas - Nächstenliebe. Für mich bedeutet das, auf die anderen zu schauen, denen es schlechter geht als mir. Wir müssen uns, um die kümmern, die auf der Schattenseite stehen. Um die Armen. So hat es Jesus auch gemacht. Wobei Spliethoff betont, dass Armut nicht nur eine materielle Seite habe. Es gebe auch seelische Armut. Um sich aber um diese Menschen kümmern zu können, muss man genau hinsehen.

Aus Spliethoffs Sicht ist dieser Blick der Kirche in Deutschland verstellt. Für ihn ist die Kirche zu sehr Behörde. Es werden zu viele Akten gewälzt, statt sich um die Seelen der Menschen zu sorgen. Zu viele Priester sind mit Verwaltungstätigkeiten beschäftigt. Deswegen wird aber niemand Priester. Das zermürbt viele. Wäre also doch jetzt endlich die Möglichkeit, den Status quo zu beenden. Glaubt er an die Wende?

Es gibt da einen schönen Witz: Im Zentrum der Messe steht ja die Wandlung. Aber warum wandelt sich so wenig? Spliethoff lacht. Aber das, was so eine Wandlung ganz persönlich bedeuten kann, das hat Dieter Spliethoff erlebt. Während seiner Zeit bei den Georgs-Pfadfindern. Er beschreibt es so: Die Fähigkeit, auch zu sich selbst Abstand nehmen zu können. Sich selbst zu relativieren und nicht zu wichtig zu nehmen. Für Spliethoff ist das eine typisch christliche Haltung, die sich auch ganz praktisch bewährt. Zum Beispiel in der Politik: Da ist es dann nicht so schlimm, wenn man mal nicht gewählt wird. Man ärgert sich. Aber ich weiß auch: das ist nicht alles.

Die Freiheit eines Christenmenschen? Für Spliethoff jedenfalls ist dieser befreiende Moment wichtig. Und der Kirche rät er auch, sich von Dingen zu befreien, die letztlich nur belasten. Müssen wir unbedingt katholische Krankenhäuser haben? Pfarrer, die jetzt dort in Aufsichtsräten sitzen, könnten sich endlich wieder mehr der Seelsorge widmen.

Der eigentliche Reichtum der Kirche liege eben nicht in irgendwelchen materiellen Werten, sondern im Glauben ihrer Mitglieder. Die Freude am Glauben müsste stärker gezeigt werden. Schon vor über hundert Jahren spottete Nietzsche über die Christen seiner Zeit: „Sie sehen so unerlöst aus.“ Spliethoff beschreibt ein Erlebnis aus der Gegenwart: Ostern ruft ein Geistlicher Halleluja. Das ist ja ein Freudenausruf. Aber bei ihm klang das wie abgelesen.

Spliethoff ist zuversichtlich, dass der neue Papst das Charisma hat, diese Freude zu verbreiten. Aber es hängt in erster Linie natürlich an den Personen vor Ort. Seit vor gut zehn Jahren das katholische Jugendamt in der Stadt geschlossen wurde, gibt es keine flächendeckende katholische Jugendarbeit mehr in Mülheim. Für Spliethoff schon bezeichnend im Hinblick darauf, wie die Kirche hier offenbar ihre Zukunft sieht.

Aber der Heilige Geist wirkt eben doch, sagt dann der 58-Jährige plötzlich. Klar, er meint zunächst den neuen Papst. Mit so einer Figur habe er nicht gerechnet. Aber auch schon der Rücktritt von Benedikt sei überraschend gewesen, sehr respektabel. Es kann also ganz schnell etwas in Bewegung kommen. Und wenn das sogar für die Weltkirche gilt, warum soll das dann erst recht nicht vor Ort funktionieren können?

Spliethoff weiß hier auch kein Patentrezept. Wandlung ist eben ein lang andauernder Prozess, der immer weiter geht. Er wiederholt sein Credo: Auf die schauen, denen es schlechter geht. Und natürlich helfen. Spliethoff wird auch weiterhin die Augen aufhalten.