Die sichtbare Welt ist nicht immer die wirkliche. Wenn Studierende der Hochschule Ruhr West die Zeit hätten, heute um 16 Uhr im Historischen Rathaus die Sitzung des Planungsausschusses zu verfolgen, könnten sie erfahren, dass die Realitätsschere allemal für die Politik gilt. Sichtbar dürfte unter dem Tagesordnungspunkt 12.1 nur der „Verkauf eines städtischen Grundstücks an der Bülowstraße für studentisches Wohnen“ aufgerufen werden. Danach gibt es mutmaßlich einen kleinen Vortrag und alsbald sagt jemand, dass man das Ganze noch bedenken müsse. So geschieht es dann auch, so geschieht es immer. Keine Entscheidung, kein Streit, nächstes Thema. Dabei tobt um das Studentenwohnheim ein Kampf, in dem es um nichts weniger geht als um die Macht im Rathaus.
Jedenfalls ein Stück der Macht. Das Stück, auf dem SPD steht.
Hundehaufen und Kaufkraft
Der Konfliktstoff ist nicht leicht zu erkennen. Wenn tausende Studenten ab 2015 an der Duisburger Straße in einem funkelnagelneuen Gebäude lernen, sollten sie in Mülheim auch günstigen Wohnraum vorfinden. Niemand widerspricht diesem Gedanken, wie auch? Die Hochschule ist dafür, der Förderverein, der Broicher Bürgerverein, die Parteien waren es, die Oberbürgermeisterin sowieso und mit dem Studentenwerk war rasch ein potenzieller Bauherr gefunden, der die angepeilte Studentenmiete auch realisieren kann: 250 Euro.
Doch dann kamen die Details, dann kam der Ort. Im August schlug die Planungsverwaltung erstmals 4500 Quadratmeter städtischen Bodens an der Bülowstraße vor, die so ideal erscheinen (s. Kasten). Aber nicht für jeden, nicht für den SPD-Ortsverein Broich; genauer: nicht für jeden im Ortsverein Broich.
In zwei Vorstandssitzungen machte sich Unmut breit, wie Teilnehmer berichten, getragen vom Ortsvereinvorsitzenden Heino Passmann. Die Hundewiese, die der Flecken derzeit ist, dürfe nicht verschwinden, hieß es, eine Frischluftschneise würde zugebaut und überhaupt, der Lärm, mehr Betrieb, wer wisse schon, wie es genau werde.
Niemand weiß das, aber einer ist Befürworter der Bülowstraße: Dieter Wiechering, Broicher, Planungspolitiker und Fraktionsvorsitzender der SPD im Rat. Jener Wiechering, dem Passmann den Fehdehandschuh hinwarf, dem er den Wahlkreis abnehmen und den er beerben will. Viele in der SPD hatten schon gerätselt, womit Passmann seinen parteiinternen Wahlkampf führt, der am 16. Dezember in einer Broicher Mitgliederversammlung entschieden wird. Jetzt weiß man’s.
Vor Ort haben die kleinteiligen Bedenken „Mobilisierungscharakter“, wie es ein Broicher Genosse sagt. Forciert Wiechering den Standort, verliert er in Broich möglicherweise an Boden - und stürzt.
Das Rumoren ist nicht unbemerkt geblieben. HRW-Präsident Eberhard Menzel schert sich wenig um Parteiinterna, hat aber die Gefahr erkannt, die dem Projekt droht. In einem Brandbrief an alle Ratsfraktionen wirbt er derzeit nachdrücklich für das „campusnahe Studentenwohnheim“. Dies sei im Sinne der Hochschule, im Interesse der Studierenden und ein Gewinn für die Stadt und die Kaufkraft im Stadtteil.
Die Zeit drängt bereits
Doch die Begeisterung ist schon nicht mehr einhellig. Bedenkenträger sitzen in fast allen Fraktionen und die Aussicht, einen Antipoden schwächen oder loswerden zu könne, lockt allzumal. Schon fragt sich CDU-Fraktionsgeschäftsführer Hansgeorg Schiemer, ob der Bedarf dauerhaft vorhanden ist: „Die Erfahrung zeigt, dass der Anteil der auswärtigen Studenten, die hier eine Wohnung suchen, geringer als erwartet ist.“ Andere schielen auf ein Bundesbahn-Grundstück an der Liebigstraße, das aber voller Altlasten ist und zeit- wie kostenaufwändig hergerichtet werden müsste.
Zeit aber gibt es genau nicht mehr. Ist das Wohnheim zur Eröffnung des Campus nicht bezugsfertig, orientieren sich die neuen Studenten anders. Spätestens am 18. Dezember muss der Rat mithin entscheiden, zwei Tage nach dem Mitgliederentscheid der SPD in Broich. Zuvor steht am Mittwoch in der SPD-Fraktionssitzung das Thema ebenfalls an und trotz aller Machtfragen lehnt sich Fraktionsgeschäftsführer Claus Schindler sogar offiziell schon mal aus dem Fenster: Ja, er rechne mit einer Mehrheit, auch im Rat. „Es ist besser ein Wohnheim dort zu bauen, wo sich das Leben abspielt“, sagt er.
Dass das mit dem alten Fahrensmann Wiechering den ersten in einer ganze Führungskette den Job kosten könnte , sagt er nicht.