Die Zurückhaltung erweist sich in der Rückschau als geradezu prophetisch. 100 Tage wollte der Mülheimer Betriebsratsvorsitzende von Siemens, Pietro Bazzoli, dem neuen Konzern-Chef Joe Kaeser Anfang August einräumen und weniger auf Worte als „auf Taten achten“. Die hat Kaeser nun am Wochenende abgeliefert, weit vor Ablauf der 100 Tage und in Form einer Zahl: 15000 Stellen stellt der Vorstand weltweit zur Disposition, 5000 davon angeblich in Deutschland, 1400 möglicherweise in der Energiesparte. Die Reaktion im Mülheimer Siemens-Werk, in dem knapp 5000 Beschäftigte vor allem Dampfturbinen und Generatoren fertigen, beschrieb Bazzoli gestern so: „Der Standort steht kopf.“

Der Grund: Außer der Zahl von 15000 wissen die Beschäftigten und die Arbeitnehmervertreter in den Mitbestimmungsgremien - nichts. „Und auch das, was wir wissen, haben wir aus der Zeitung“, sagte Bazzoli, der schon zu Zeiten des glücklosen Kaeser-Vorgängers Löscher öfter beklagt hatte, über die Suchmaschine Google mehr Betriebsinterna zu erfahren als auf internen Kommunikationswegen. Das neuerliche Rätselraten nervt nicht nur Bazzoli und die Mülheimer Siemensianer. Gesamtsbetriebsrats-Chef Lothar Adler gibt seit Montag seine „maßlose Verärgerung“ überall öffentlich zu Protokoll und kündigte drohend an, die Betriebsräte würden ihre Losung „Mensch vor Marge“ zur Not kämpferisch verfolgen.

Damit hat das Siemens-Eigengewächs Kaeser aus Sicht von Bazzoli das Gegenteil von dem erreicht, was er als Ziel ausgegeben hatte: Ruhe in den Konzern zu bringen. Vor allem durch milliardenschwere, aber unklar definierte Kostenprogramme und eine Ergebnismarge von zwölf Prozent hatte Vorgänger Löscher viel internen Wirbel erzeugt - und darin letztlich seinen Posten eingebüßt.

Jetzt also gibt es eine Zahl, aber keine Gewissheit. Analysten und Börsianer maulen schon, 15000 Stellen sein viel zu wenig, 30000 sollten es eher sein. Kaeser steht mithin auch von dieser Seite aus unter Druck. Den empfinden die Beschäftigten aber auch, erst recht, weil offen bleibt, was die Zahl bedeutet. Erst in diesem Jahr hatte Siemens-Mülheim den Personalstand um etwa 100 Stellen verkürzt; abgefedert durch einen Interessenausgleich, der just gestern ausgelaufen ist. Nicht nur Bazzoli fragt sich nun: „Ist dieser Mülheimer Beitrag zur Kostensenkung in die 15000 Kaeser-Stellen eingepreist oder kommt da noch was auf uns zu?“ Vermutungen dazu verkneift sich Bazzoli: „Die Konzernleitung ist nun am Zug, wieder auf den Kurs der Mitbestimmung einzuschwenken und zu erklären, was sie vorhat. Darauf warten wir.“

Kann Siemens von der Medl lernen?

Klar ist: Siemens ist für Mülheim schon angesichts der schieren Größe nicht irgendein Standort und die Energiesparte ist die vielleicht politischste des Konzerns. Schon in der Vergangenheit hatten Arbeitnehmervertreter immer wieder klare Ansagen und Rahmenbedingungen eingefordert, in diesem Fall von der Bundesregierung. Denn auch dem Mülheimer Betriebsrat ist bewusst, dass das jahrzehntealte Kerngeschäft der Generatorenfertigung angesichts des gewollten Ausbaus erneuerbarer Energien auf lange Sicht eine Übergangstechnologie darstellt.

Auf diesem Konfliktfeld aus Renditedruck, Langfriststrategie, Beschäftigungssicherung und Politik könnte dem Konzern allgemein und auch dem Mülheimer Standort leicht ein heißer Herbst erwachsen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Arno Klar sprang der Arbeitnehmerseite jedenfalls gestern schon ganz grundsätzlich zur Seite. Kaesers Devise, einfach und einfalllos Leute rauszuschmeißen, weil die Rendite nicht stimme, sei überholt, altes Denken sozusagen.

Wie man es besser machen könnte, sagte Klare auch: so wie die Medl. Der kommunale Energiedienstleister gehe mit seiner Bürgeranleihe den zukunftsträchtigen Weg. Die Medl leiht sich damit von den Bürgern Geld, um innovative Energieerzeugung zu finanzieren. Im Gegenzug bietet die Medl eine Verzinsung von bis zu 3,7 Prozent. Damit verknüpfe die Medl allgemeine Ziele der Energiewende mit individuellem Anlegergewinn. In dem Punkt, findet Klare, könne selbst ein Weltkonzern von den „guten Ideen“ eines kleinen Unternehmens noch viel lernen.