Die Reise meines Lebens fand in den 90er-Jahren statt. Genau genommen waren es drei Reisen in die Vergangenheit, in ein Land, welches nicht mehr existiert: Ostpreußen, das Land der Vorfahren.

Ziel meines Besuchs ist das ehemals väterliche Gut Kringitten im Samland, an der Küste zwischen den damaligen Ostseebädern Rauschen und Cranz gelegen. Alle Gebäude sind abgerissen und abgetragen. Trümmer sind stumme Zeugen, dass hier einmal unbeschwertes Leben herrschte. Durch hüfthohes Gras und Unkraut bahne ich mir den Weg zu der Stelle, wo früher das Gutshaus mit dem angrenzenden Garten stand. Ein Thujabusch im Hausgarten, auf einer alten Fotografie zu erkennen, ist zu einem zehn Meter hohen Baum geworden. Zwei Buchenhecken, früher mannshoch geschnitten, haben sich zu großen Bäumen ausgewachsen.

Mauerreste, Dachrinnenteile, Kacheln vom Kamin, Bruchstücke vom Geschirr meiner Mutter erwecken meine Aufmerksamkeit. Die Russen haben den Hausgarten in einen kleinen Friedhof mit etwa zehn Gräbern verwandelt. Viele verrostete Metallteile und unzählige Hufeisen weisen an anderer Stelle auf die ehemalige Schmiede hin. Die Pferde, die Trakehner, waren der ganze Stolz meines Vaters.

Der früher mondäne Badeort Cranz versprüht kaum noch etwas von seinem alten Glanz. Ganz anders das Fischerdorf Nidden auf der Kurischen Nehrung, wo Thomas Mann sein Haus „Onkel Toms Hütte” baute. Nidden, mit Häusern angestrichen im typischen Niddener Blau, stroh- und schilfgedeckt mit sich kreuzenden, heidnischen Pferdeköpfen an den Giebeln. Der einmalige Rundblick von einer Anhöhe auf die Nehrung, das Haff und die offene See bleibt unvergessen.

Auf dem Reiseplan steht auch der Besuch meiner Geburtsstadt Königsberg. Auf der Fahrt dorthin beeindrucken die schönen alten Alleen. Mir tut sich eine andere Welt auf. Das ist meine Geburtsstadt? Ich muss mich mit ihr anfreunden können, denn es erfüllt mich mit gewissem Stolz, hier geboren zu sein und nicht irgendwo auf der Flucht. Der Besuch des Bernsteinmuseums gehört zu den positiven Eindrücken in dieser misshandelten Stadt. Ins Innere des Königsberger Doms darf man zurzeit nicht, hier wird restauriert. Ich besuche Kants Grab und schaue mir noch das Treiben der Kaliningrader an, ihre Marktstände, bewundere ihre Geduld, für alltägliches Schlangestehen. Ich blicke in überfüllte Straßenbahnen und Busse, spüre leichtes Kopfweh, bedingt durch die Eindrücke und der über der Stadt liegenden „dicken Luft”.

Der Ausflug in die Vergangenheit war sehr anstrengend, teils abenteuerlich. Ich fühle jedoch zutiefst innere Zufriedenheit. Ostpreußen hat sich in Bildern in meiner Seele tief und für immer eingegraben. Vieles, was ich nur von Erzählungen her kannte, ist nicht mehr abstrakt. Meine Begegnung mit Ostpreußen hat in mir etwas verändert, das ich kaum mit Worten zu beschreiben mag.

Die Reise meines Lebens fand in den 90er Jahren statt. Genau genommen waren es drei Reisen in die Vergangenheit, in ein Land, welches nicht mehr existiert. Ostpreußen, das Land der Vorfahren. Ein Land wie ausradiert, jahrzehntelang totgeschwiegen, mitten in Europa.

Ziel meines Besuchs ist das ehemals väterliche Gut Kringitten im Samland, bei Pobethen, an der Küste zwischen den damaligen Ostseebädern Rauschen und Cranz gelegen. Alle ehemaligen Gebäude sind abgerissen und abgetragen. Trümmer sind stumme Zeugen, dass hier früher einmal unbeschwertes Leben herrschte. Durch hüfthohes Gras und Unkraut bahne ich mir den Weg zu der Stelle, wo früher das Gutshaus mit dem angrenzenden Garten stand. Ein Thujabusch im Hausgarten, auf einer alten Fotografie zu erkennen, ist zu einem zehn Meter hohen Baum geworden. Zwei Buchenhecken, früher mannshoch geschnitten, haben sich zu großen Bäumen ausgewachsen, die, in Reih und Glied stehend, verzweifelt ihre Äste durch das Dickicht dem Licht entgegen strecken. Mauerreste, Dachrinnenteile, Kacheln vom Kamin, Bruchstücke vom Geschirr meiner Mutter erwecken meine Aufmerksamkeit. Die Russen haben den Hausgarten in einen kleinen Friedhof mit etwa zehn Gräbern verwandelt. Viele verrostete Metallteile und unzählige Hufeisen weisen an anderer Stelle auf die ehemalige Schmiede hin. Die Pferde, die Trakehner, waren der ganze Stolz meines Vaters. Vom Gut Kringitten, dass auf einer kleinen Anhöhe liegt und von wo man auch die See als blaues Band am Horizont wahrnimmt, wandere ich auf einem Feldweg einem lichten Wald entgegen, umrahmt vom prächtigen Farbenspiel der Birken, Kiefern und tiefblauen Lupinen. Nach einer kleinen Linksbiegung betrete ich einen feinkörnigen, breiten Sandstrand, eingefasst von einer etwa acht Meter hohen Steilküste. Wie viel erholsame Stunden mögen die Kringitter hier verbracht haben?

Auf Störche trifft man hier überall. Majestätisch stolzieren sie auf Wiesen und Feldern, in unmittelbarer Nachbarschaft von feldarbeitenden Kolchosbauern mit Treckern und Landmaschinen, Sensen und anderen Geräten, die bei uns schon längst in landwirtschaftlichen Museen ständen.

Der Besuch des früher mondänen Badeortes Cranz gerät zur Enttäuschung. Man verspürt kaum noch etwas vom alten Glanz dieses berühmten Ortes. Ganz anders das Fischerdorf Nidden auf der Kurischen Nehrung, wo Thomas Mann zwei Jahre verbrachte (1930-32) und hier sein Haus “Onkel Toms Hütte” baute. Nidden mit noch gut erhaltenen Häusern, angestrichen, in dem für sie typischen Niddener Blau, stroh- und schilfgedeckt mit sich kreuzenden, heidnischen Pferdeköpfen an den Giebeln. 1807 übernachtete Königin Luise auf der Flucht vor den Franzosen in Nidden. Den einmaligen Rundblick von einer Anhöhe auf die Nehrung, das Haff und die offene See, diese Dünenlandschaft bleibt unvergessen. Dieses Bild wird in meiner Seele nicht mehr fehlen, Alexander von Humboldt ...! Das Festland ist auf der anderen Seite des Haffs kaum auszumachen. Unglaublich, dass diese Wassermassen - fünfmal so groß wie der Bodensee - zufrieren können. Welche abgrundtiefe Angst muss doch die Menschen befallen haben, die im letzten Kriegswinter über das vereiste Haff dem Zugriff der Roten Armee entgehen wollten und in Trecks nach Westen zogen!

Auf dem Reiseplan steht auch der Besuch meiner Geburtsstadt Königsberg. Auf der Fahrt dorthin beeindrucken immer wieder die schönen alten Alleen mit ihren schattenspendenden Bäumen. Die Gedanken schweifen zurück an die Kriegsjahre 1944/45. Wie viele menschliche Dramen und Schicksale fanden wohl ihr schreckliches Ende hier in einem Chausseegraben?

Alle, die Königsberg besuchten, waren mehr oder weniger entsetzt zurückgekommen. Nur wenig Bekanntes fand man hier. Für mich ist alles neu, ich will mir die Stadt fair und unvoreingenommen erschließen. Ich bin angenehm überrascht über viel Grün in der Innenstadt, auch wenn ich meine, einen Grauschleier zu sehen, der sich über Straßen, Plätze und Gebäude legt. Mir tut sich eine andere Welt auf. Das ist meine Geburtsstadt? Ich muss mich mit ihr anfreunden können, denn es erfüllt mich mit gewissem Stolz noch hier geboren zu sein, und nicht irgendwo auf der Flucht das Licht der Welt erblickt zu haben. Der Besuch des Bernsteinmuseums im Dohnaturm gehört zu den positiven Eindrücken in dieser misshandelten Stadt. In der ganzen Region trifft man auf kunstvoll verarbeiteten Bernsteinschmuck, der von fliegenden Händlern preiswert an den Mann, sprich Touristen, gebracht wird. Es gibt auch viel Schmuck mit Einschluss, so dass mir über die Echtheit dieser Raritäten doch Zweifel angebracht erscheinen. Ins Innere des Königsberger Doms darf man zurzeit nicht, hier wird restauriert. Ich besuche Kants Grab. Wie durch ein Wunder blieb sein Mausoleum als Anbau am Dom im Kriege unversehrt. Königsberg, Krönungsstadt der Preußenkönige. Friedrich I. war der erste, dem 1701 in der Schlosskirche die Krone aufgesetzt wurde. Königsberg mit dem berühmtesten Sohn der Stadt, dem Philosophen Immanuel Kant, der an der Albertina gelehrt hatte und am Dom 1804 beigesetzt wurde. Seine Grabstätte wird von den Russen weiter gepflegt. Der Grund für das Überleben des Domes ist in Kant zu sehen, ihn verehrten auch die Russen. Ein Abriss des Domes hätte gleichfalls die Zerstörung seines Grabes nach sich gezogen.

Ich schaue mir noch das Treiben der Kaliningrader an, ihre Marktstände, bewundere ihre Geduld, sich in Schlangen für irgendetwas Alltägliches anzustellen. Ich blicke in die hoffnungslos überfüllten Straßenbahnen und Trollibusse, spüre leichtes Kopfweh, bedingt durch die vielen Eindrücke und der über der Stadt liegenden “dicken Luft”.

Wie in einem Film laufen die Bilder der vergangenen Tage in meinem Kopf ab. Wie schrieb Hans Graf von Lehndorf aufgrund seiner grauenvollen Erlebnisse in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges in seiner erschütternden Dokumentation “Tagebuch in Ostpreußen”? “Kraam, St Lorenz, Watzum, Pobethen - der Klang dieser Ortsnamen, den Bewohnern des Samlandes heimatlich vertraut, in mir hallt er wider wie ein Schreien, das unaufhörlich zum Himmel aufsteigt.” Für mich haben die Namen nun fast sakralen Klang. Ich gedenke ihrer in stiller Ehrfurcht. Wenn ich durch die baumbestandenen Alleen dieser Dörfer fahre, ist es, als durchschreite ich das Mittelschiff einer Basilika.

Ein Höhepunkt meiner Reise ist die Fahrt in das verträumte Dorf Gilge an der Mündung des Gilgeflusses ins Kurische Haff. Mit einem kleinen Schiffchen tuckern wir die letzten Kilometer durch eine friedfertige Natur, einer sich selbst überlassenen Landschaft. Man könnte glauben, auf dem Weg ins Paradies zu sein. Ein Vogelparadies ist es in jedem Falle. Wasservögel aller Art haben hier ihr Refugium. Reiher stehen steif und unbeweglich im flachen Wasser des schilfgesäumten Ufers. Auf einem abgestorbenen alten Baum, der seine Äste gespenstisch zum Himmel streckt, beobachten Kormorane die munter vorbeifahrende Reisegruppe. Vereinzelte Angler runden die Idylle ab, sonst ist keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Die Bugwelle des Schiffchens biegt das Schilf an der Uferzone, beunruhigt steigen Wildenten auf. Schlingpflanzen und Seerosenteppiche begleiten uns auf den letzten Metern, bevor wir endlich am hölzernen Bootsteg von Gilge vor Anker gehen.

Welch ein verträumter Ort, von der Zeit und dem Krieg vergessen. An beiden Seiten des Flusses stehen die Häuser wie an einer Perlenkette aufgereiht. Alte Fischerhäuser aus Holz, Steinhäuser mit holzverkleideten Giebeln wechseln in bunter Folge ab. Rote Ziegeldächer leuchten farbenfroh in der Mittagssonne. Jedes Haus hat seinen eigenen Zugang zum Fluss, wo vereinzelt kleine Boote festgetaut auf die nächste Ausfahrt warten. Auf einem Staketenzaun treiben zwei junge Kätzchen ihr akrobatisches Spiel. Hier scheint die Welt noch wirklich in Ordnung zu sein. Gänse, Hühner, Enten laufen frei herum, ein Bild, das bei uns kaum noch zu sehen ist. Störche gleiten in der sommerlichen Hitze majestätisch durch die klare, würzige Luft, steuern zielbewusst ihre Nester, hoch auf den Firsten der Fischerhäuschen, an. Flirrende Augusthitze liegt über der friedlichen Natur. Im seichten Wasser der Gilge stehend sucht eine buntgefleckte Kuh Kühlung. Mückenschwärme führen unermüdlich ihren Hochzeitstanz zwischen grasendem Vieh auf. Eine Bachstelze tippelt aufgeregt auf Nahrungssuche am sandigen Flussufer. Unzählige Zwergseeschwalben sitzen, dichtgedrängt, unaufhörlich zwitschernd, auf den Stromdrähten der Freileitung. Am Horizont kämpft eine Kette kleiner weißer Kumuluswölkchen gegen die sengenden Sonnenstrahlen an. Himmlische Ruhe überall. Im kleinen Ruderboot lassen sich zwei Dorfjungen mitten auf der Gilge faul treiben, träumen in den Sommertag hinein. Mir ist, als habe sich die Vergangenheit zurückgemeldet. Ein Ort der Ruhe, der Entspannung und Besinnung. Ich verharre einen Augenblick, um das malerische Bild in mir aufzunehmen, vergesse für einen Moment meine technisierte Welt, besinne mich auf das wirklich Wesentliche. Im Café Ehrlich, den meisten Ostpreußenreisenden durchs Fernsehen bekannt, werden wir herzlich empfangen und nehmen ein schmackhaftes Mittagsmahl ein. Flinsen nach ostpreußischer Art, wie sie meine Mutter nicht besser machen konnte, stehen auf der Speisekarte. Eine herzhafte Suppe eröffnet das Menü.

Der Ausflug in die Vergangenheit war sehr anstrengend, teils abenteuerlich. Ich fühle jedoch zutiefst innere Zufriedenheit. Was ich auf meiner Ostpreußenreise sehen wollte, habe ich gesehen. Bis auf Pillau, dem Ort, an dem ich in den Armen meiner Mutter, noch keine anderthalb Jahre alt, in Begleitung meiner Schwester und anderen Familienangehörigen Ostpreußen im eiskalten Januar 1945 verlassen musste. Ostpreußen, jahrzehntelang ein weißer Fleck auf der Landkarte, eine Phantasiewelt, von der ich nicht einmal zu träumen gewagt habe, sie wirklich kennen zu lernen, hat sich in Bildern in meiner Seele tief und für immer eingegraben. Vieles, was ich nur von Erzählungen her kannte, ist nicht mehr abstrakt, sondern für mich nachvollziehbar. Meine Begegnung mit Ostpreußen und seinen neuen Bewohnern haben in mit etwas verändert, das ich zurzeit kaum mit Worten zu beschreiben vermag.

Ein Volk wacht auf aus seiner Lethargie, aus seinem jahrzehntelangen sozialistischen Schlaf. Es war gewohnt, auf Anweisungen der Obrigkeit zu warten und diese auszuführen. Das Rad der Geschichte scheint zurückgedreht, die Zeiger der Uhr beginnen sich wieder zu drehen. Die jungen Kaliningrader träumen von der Öffnung ihres Staates nach Westen, hoffen auf europäische Integration. Einige alte trauern noch dem System nach, aus dem sie mit der Wende unliebsam und abrupt gerissen wurden. Zurück in die Zukunft! Man besinnt sich auf das „Vorleben“ der neuen Heimat, hat erkannt, dass der Mensch Geschichte nicht verdrängen kann.

Und wovon träumen die Mücken, die Mücken im Bernstein? Na ja, sie träumen natürlich vom Bernsteinzimmer, rätseln, wohin es unter mysteriösen Umständen nach den Bombennächten des Krieges verschwand. Ist es doch ein Raub der Flammen geworden, das achte Weltwunder?

Es fallen ein paar Regentropfen, die Reise ist zu Ende. Eine Reise in mein Geburtsland Ostpreußen, meine Seelenheimat, die Heimat der Pobether, die meine Wegbegleiter waren und mit ihren Erinnerungen und Erzählungen in mir das Samland mit dem Kirchdorf Pobethen lebendig werden ließen. Ein Land, das nun die Heimat von Swetlana der Reiseleiterin geworden ist, eine Selbstverständlichkeit für sie. Ein Land, in dem sie ihre Zukunft sieht, wie ich die meine in Deutschland sehe. Zum Abschied schenkt Sweta mir noch einen Rubel, „zum Glück“, wie sie sagt. Das wünsche ich auch ihr.

Hubertus Lemke

Die Reise meines Lebens fand in den 90er Jahren statt. Genau genommen waren es drei Reisen in die Vergangenheit, in ein Land, welches nicht mehr existiert. Ostpreußen, das Land der Vorfahren. Ein Land wie ausradiert, jahrzehntelang totgeschwiegen, mitten in Europa.

Ziel meines Besuchs ist das ehemals väterliche Gut Kringitten im Samland, bei Pobethen, an der Küste zwischen den damaligen Ostseebädern Rauschen und Cranz gelegen. Alle ehemaligen Gebäude sind abgerissen und abgetragen. Trümmer sind stumme Zeugen, dass hier früher einmal unbeschwertes Leben herrschte. Durch hüfthohes Gras und Unkraut bahne ich mir den Weg zu der Stelle, wo früher das Gutshaus mit dem angrenzenden Garten stand. Ein Thujabusch im Hausgarten, auf einer alten Fotografie zu erkennen, ist zu einem zehn Meter hohen Baum geworden. Zwei Buchenhecken, früher mannshoch geschnitten, haben sich zu großen Bäumen ausgewachsen, die, in Reih und Glied stehend, verzweifelt ihre Äste durch das Dickicht dem Licht entgegen strecken. Mauerreste, Dachrinnenteile, Kacheln vom Kamin, Bruchstücke vom Geschirr meiner Mutter erwecken meine Aufmerksamkeit. Die Russen haben den Hausgarten in einen kleinen Friedhof mit etwa zehn Gräbern verwandelt. Viele verrostete Metallteile und unzählige Hufeisen weisen an anderer Stelle auf die ehemalige Schmiede hin. Die Pferde, die Trakehner, waren der ganze Stolz meines Vaters. Vom Gut Kringitten, dass auf einer kleinen Anhöhe liegt und von wo man auch die See als blaues Band am Horizont wahrnimmt, wandere ich auf einem Feldweg einem lichten Wald entgegen, umrahmt vom prächtigen Farbenspiel der Birken, Kiefern und tiefblauen Lupinen. Nach einer kleinen Linksbiegung betrete ich einen feinkörnigen, breiten Sandstrand, eingefasst von einer etwa acht Meter hohen Steilküste. Wie viel erholsame Stunden mögen die Kringitter hier verbracht haben?

Auf Störche trifft man hier überall. Majestätisch stolzieren sie auf Wiesen und Feldern, in unmittelbarer Nachbarschaft von feldarbeitenden Kolchosbauern mit Treckern und Landmaschinen, Sensen und anderen Geräten, die bei uns schon längst in landwirtschaftlichen Museen ständen.

Der Besuch des früher mondänen Badeortes Cranz gerät zur Enttäuschung. Man verspürt kaum noch etwas vom alten Glanz dieses berühmten Ortes. Ganz anders das Fischerdorf Nidden auf der Kurischen Nehrung, wo Thomas Mann zwei Jahre verbrachte (1930-32) und hier sein Haus “Onkel Toms Hütte” baute. Nidden mit noch gut erhaltenen Häusern, angestrichen, in dem für sie typischen Niddener Blau, stroh- und schilfgedeckt mit sich kreuzenden, heidnischen Pferdeköpfen an den Giebeln. 1807 übernachtete Königin Luise auf der Flucht vor den Franzosen in Nidden. Den einmaligen Rundblick von einer Anhöhe auf die Nehrung, das Haff und die offene See, diese Dünenlandschaft bleibt unvergessen. Dieses Bild wird in meiner Seele nicht mehr fehlen, Alexander von Humboldt ...! Das Festland ist auf der anderen Seite des Haffs kaum auszumachen. Unglaublich, dass diese Wassermassen - fünfmal so groß wie der Bodensee - zufrieren können. Welche abgrundtiefe Angst muss doch die Menschen befallen haben, die im letzten Kriegswinter über das vereiste Haff dem Zugriff der Roten Armee entgehen wollten und in Trecks nach Westen zogen!

Auf dem Reiseplan steht auch der Besuch meiner Geburtsstadt Königsberg. Auf der Fahrt dorthin beeindrucken immer wieder die schönen alten Alleen mit ihren schattenspendenden Bäumen. Die Gedanken schweifen zurück an die Kriegsjahre 1944/45. Wie viele menschliche Dramen und Schicksale fanden wohl ihr schreckliches Ende hier in einem Chausseegraben?

Alle, die Königsberg besuchten, waren mehr oder weniger entsetzt zurückgekommen. Nur wenig Bekanntes fand man hier. Für mich ist alles neu, ich will mir die Stadt fair und unvoreingenommen erschließen. Ich bin angenehm überrascht über viel Grün in der Innenstadt, auch wenn ich meine, einen Grauschleier zu sehen, der sich über Straßen, Plätze und Gebäude legt. Mir tut sich eine andere Welt auf. Das ist meine Geburtsstadt? Ich muss mich mit ihr anfreunden können, denn es erfüllt mich mit gewissem Stolz noch hier geboren zu sein, und nicht irgendwo auf der Flucht das Licht der Welt erblickt zu haben. Der Besuch des Bernsteinmuseums im Dohnaturm gehört zu den positiven Eindrücken in dieser misshandelten Stadt. In der ganzen Region trifft man auf kunstvoll verarbeiteten Bernsteinschmuck, der von fliegenden Händlern preiswert an den Mann, sprich Touristen, gebracht wird. Es gibt auch viel Schmuck mit Einschluss, so dass mir über die Echtheit dieser Raritäten doch Zweifel angebracht erscheinen. Ins Innere des Königsberger Doms darf man zurzeit nicht, hier wird restauriert. Ich besuche Kants Grab. Wie durch ein Wunder blieb sein Mausoleum als Anbau am Dom im Kriege unversehrt. Königsberg, Krönungsstadt der Preußenkönige. Friedrich I. war der erste, dem 1701 in der Schlosskirche die Krone aufgesetzt wurde. Königsberg mit dem berühmtesten Sohn der Stadt, dem Philosophen Immanuel Kant, der an der Albertina gelehrt hatte und am Dom 1804 beigesetzt wurde. Seine Grabstätte wird von den Russen weiter gepflegt. Der Grund für das Überleben des Domes ist in Kant zu sehen, ihn verehrten auch die Russen. Ein Abriss des Domes hätte gleichfalls die Zerstörung seines Grabes nach sich gezogen.

Ich schaue mir noch das Treiben der Kaliningrader an, ihre Marktstände, bewundere ihre Geduld, sich in Schlangen für irgendetwas Alltägliches anzustellen. Ich blicke in die hoffnungslos überfüllten Straßenbahnen und Trollibusse, spüre leichtes Kopfweh, bedingt durch die vielen Eindrücke und der über der Stadt liegenden “dicken Luft”.

Wie in einem Film laufen die Bilder der vergangenen Tage in meinem Kopf ab. Wie schrieb Hans Graf von Lehndorf aufgrund seiner grauenvollen Erlebnisse in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges in seiner erschütternden Dokumentation “Tagebuch in Ostpreußen”? “Kraam, St Lorenz, Watzum, Pobethen - der Klang dieser Ortsnamen, den Bewohnern des Samlandes heimatlich vertraut, in mir hallt er wider wie ein Schreien, das unaufhörlich zum Himmel aufsteigt.” Für mich haben die Namen nun fast sakralen Klang. Ich gedenke ihrer in stiller Ehrfurcht. Wenn ich durch die baumbestandenen Alleen dieser Dörfer fahre, ist es, als durchschreite ich das Mittelschiff einer Basilika.

Ein Höhepunkt meiner Reise ist die Fahrt in das verträumte Dorf Gilge an der Mündung des Gilgeflusses ins Kurische Haff. Mit einem kleinen Schiffchen tuckern wir die letzten Kilometer durch eine friedfertige Natur, einer sich selbst überlassenen Landschaft. Man könnte glauben, auf dem Weg ins Paradies zu sein. Ein Vogelparadies ist es in jedem Falle. Wasservögel aller Art haben hier ihr Refugium. Reiher stehen steif und unbeweglich im flachen Wasser des schilfgesäumten Ufers. Auf einem abgestorbenen alten Baum, der seine Äste gespenstisch zum Himmel streckt, beobachten Kormorane die munter vorbeifahrende Reisegruppe. Vereinzelte Angler runden die Idylle ab, sonst ist keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Die Bugwelle des Schiffchens biegt das Schilf an der Uferzone, beunruhigt steigen Wildenten auf. Schlingpflanzen und Seerosenteppiche begleiten uns auf den letzten Metern, bevor wir endlich am hölzernen Bootsteg von Gilge vor Anker gehen.

Welch ein verträumter Ort, von der Zeit und dem Krieg vergessen. An beiden Seiten des Flusses stehen die Häuser wie an einer Perlenkette aufgereiht. Alte Fischerhäuser aus Holz, Steinhäuser mit holzverkleideten Giebeln wechseln in bunter Folge ab. Rote Ziegeldächer leuchten farbenfroh in der Mittagssonne. Jedes Haus hat seinen eigenen Zugang zum Fluss, wo vereinzelt kleine Boote festgetaut auf die nächste Ausfahrt warten. Auf einem Staketenzaun treiben zwei junge Kätzchen ihr akrobatisches Spiel. Hier scheint die Welt noch wirklich in Ordnung zu sein. Gänse, Hühner, Enten laufen frei herum, ein Bild, das bei uns kaum noch zu sehen ist. Störche gleiten in der sommerlichen Hitze majestätisch durch die klare, würzige Luft, steuern zielbewusst ihre Nester, hoch auf den Firsten der Fischerhäuschen, an. Flirrende Augusthitze liegt über der friedlichen Natur. Im seichten Wasser der Gilge stehend sucht eine buntgefleckte Kuh Kühlung. Mückenschwärme führen unermüdlich ihren Hochzeitstanz zwischen grasendem Vieh auf. Eine Bachstelze tippelt aufgeregt auf Nahrungssuche am sandigen Flussufer. Unzählige Zwergseeschwalben sitzen, dichtgedrängt, unaufhörlich zwitschernd, auf den Stromdrähten der Freileitung. Am Horizont kämpft eine Kette kleiner weißer Kumuluswölkchen gegen die sengenden Sonnenstrahlen an. Himmlische Ruhe überall. Im kleinen Ruderboot lassen sich zwei Dorfjungen mitten auf der Gilge faul treiben, träumen in den Sommertag hinein. Mir ist, als habe sich die Vergangenheit zurückgemeldet. Ein Ort der Ruhe, der Entspannung und Besinnung. Ich verharre einen Augenblick, um das malerische Bild in mir aufzunehmen, vergesse für einen Moment meine technisierte Welt, besinne mich auf das wirklich Wesentliche. Im Café Ehrlich, den meisten Ostpreußenreisenden durchs Fernsehen bekannt, werden wir herzlich empfangen und nehmen ein schmackhaftes Mittagsmahl ein. Flinsen nach ostpreußischer Art, wie sie meine Mutter nicht besser machen konnte, stehen auf der Speisekarte. Eine herzhafte Suppe eröffnet das Menü.

Der Ausflug in die Vergangenheit war sehr anstrengend, teils abenteuerlich. Ich fühle jedoch zutiefst innere Zufriedenheit. Was ich auf meiner Ostpreußenreise sehen wollte, habe ich gesehen. Bis auf Pillau, dem Ort, an dem ich in den Armen meiner Mutter, noch keine anderthalb Jahre alt, in Begleitung meiner Schwester und anderen Familienangehörigen Ostpreußen im eiskalten Januar 1945 verlassen musste. Ostpreußen, jahrzehntelang ein weißer Fleck auf der Landkarte, eine Phantasiewelt, von der ich nicht einmal zu träumen gewagt habe, sie wirklich kennen zu lernen, hat sich in Bildern in meiner Seele tief und für immer eingegraben. Vieles, was ich nur von Erzählungen her kannte, ist nicht mehr abstrakt, sondern für mich nachvollziehbar. Meine Begegnung mit Ostpreußen und seinen neuen Bewohnern haben in mit etwas verändert, das ich zurzeit kaum mit Worten zu beschreiben vermag.

Ein Volk wacht auf aus seiner Lethargie, aus seinem jahrzehntelangen sozialistischen Schlaf. Es war gewohnt, auf Anweisungen der Obrigkeit zu warten und diese auszuführen. Das Rad der Geschichte scheint zurückgedreht, die Zeiger der Uhr beginnen sich wieder zu drehen. Die jungen Kaliningrader träumen von der Öffnung ihres Staates nach Westen, hoffen auf europäische Integration. Einige alte trauern noch dem System nach, aus dem sie mit der Wende unliebsam und abrupt gerissen wurden. Zurück in die Zukunft! Man besinnt sich auf das „Vorleben“ der neuen Heimat, hat erkannt, dass der Mensch Geschichte nicht verdrängen kann.

Und wovon träumen die Mücken, die Mücken im Bernstein? Na ja, sie träumen natürlich vom Bernsteinzimmer, rätseln, wohin es unter mysteriösen Umständen nach den Bombennächten des Krieges verschwand. Ist es doch ein Raub der Flammen geworden, das achte Weltwunder?

Es fallen ein paar Regentropfen, die Reise ist zu Ende. Eine Reise in mein Geburtsland Ostpreußen, meine Seelenheimat, die Heimat der Pobether, die meine Wegbegleiter waren und mit ihren Erinnerungen und Erzählungen in mir das Samland mit dem Kirchdorf Pobethen lebendig werden ließen. Ein Land, das nun die Heimat von Swetlana der Reiseleiterin geworden ist, eine Selbstverständlichkeit für sie. Ein Land, in dem sie ihre Zukunft sieht, wie ich die meine in Deutschland sehe. Zum Abschied schenkt Sweta mir noch einen Rubel, „zum Glück“, wie sie sagt. Das wünsche ich auch ihr.

Hubertus Lemke

Die Reise meines Lebens fand in den 90er Jahren statt. Genau genommen waren es drei Reisen in die Vergangenheit, in ein Land, welches nicht mehr existiert: Ostpreußen, das Land der Vorfahren.

Ziel meines Besuchs ist das ehemals väterliche Gut Kringitten im Samland an der Küste zwischen den damaligen Ostseebädern Rauschen und Cranz gelegen. Alle Gebäude sind abgerissen und abgetragen. Die Trümmer sind stumme Zeugen, dass hier einmal unbeschwertes Leben herrschte. Durch hüfthohes Gras und Unkraut bahne ich mir den Weg zu der Stelle, wo früher das Gutshaus mit dem angrenzenden Garten stand. Ein Thujabusch im Hausgarten, auf einer alten Fotografie zu erkennen, ist zu einem zehn Meter hohen Baum geworden. Zwei Buchenhecken, früher mannshoch geschnitten, haben sich zu großen Bäumen ausgewachsen.

Mauerreste, Dachrinnenteile, Kacheln vom Kamin, Bruchstücke vom Geschirr meiner Mutter erwecken meine Aufmerksamkeit. Die Russen haben den Hausgarten in einen kleinen Friedhof mit etwa zehn Gräbern verwandelt. Viele verrostete Metallteile und unzählige Hufeisen weisen an anderer Stelle auf die ehemalige Schmiede hin. Die Pferde, die Trakehner, waren der ganze Stolz meines Vaters.

Der früher mondäne Badeort Cranz versprüht kaum noch etwas von seinem alten Glanz. Ganz anders das Fischerdorf Nidden auf der Kurischen Nehrung, wo Thomas Mann sein Haus „Onkel Toms Hütte“ baute. Nidden mit Häusern angestrichen im typischen Niddener Blau, stroh- und schilfgedeckt mit sich kreuzenden, heidnischen Pferdeköpfen an den Giebeln. Der einmalige Rundblick von einer Anhöhe auf die Nehrung, das Haff und die offene See bleibt unvergessen.

Auf dem Reiseplan steht auch der Besuch meiner Geburtsstadt Königsberg. Auf der Fahrt dorthin beeindrucken die schönen alten Alleen. Mir tut sich eine andere Welt auf. Das ist meine Geburtsstadt? Ich muss mich mit ihr anfreunden können, denn es erfüllt mich mit gewissem Stolz hier geboren zu sein und nicht irgendwo auf der Flucht. Der Besuch des Bernsteinmuseums gehört zu den positiven Eindrücken in dieser misshandelten Stadt. Ins Innere des Königsberger Doms darf man derzeit nicht, es wird restauriert. Ich besuche Kants Grab und schaue mir das Treiben der Kaliningrader an, ihre Marktstände, bewundere ihre Geduld, für Alltägliches Schlage zu stehen. Ich blicke in überfüllte Straßenbahnen und Busse, spüre leichtes Kopfweh, bedingt durch die Eindrücke und der über der Stadt liegenden „dicken Luft“.

Der Ausflug in die Vergangenheit war sehr anstrengend, teils abenteuerlich. Ich fühle jedoch tiefe innere Zufriedenheit. Ostpreußen hat sich in Bildern in meiner Seele tief und für immer eingegraben. Vieles, was ich nur von Erzählungen her kannte, ist nicht mehr abstrakt. Meine Begegnung mit Ostpreußen hat in mir etwas verändert, das ich kaum mit Worten zu beschreiben vermag.

ZWEITTEXT

Ein Höhepunkt der Reise ist die Fahrt in das verträumte Dorf Gilge an der Mündung des Gilgeflusses ins Kurische Haff. Mit einem kleinen Schiffchen geht es die letzten Kilometer durch eine sich selbst überlassenen Landschaft. Man könnte glauben, auf dem Weg ins Paradies zu sein: Wasservögel aller Art haben hier ihr Refugium. Die Bugwelle des Schiffchens biegt das Schilf an der Uferzone, beunruhigt steigen Wildenten auf. Schlingpflanzen und Seerosenteppiche begleiten uns auf den letzten Metern, bevor wir am hölzernen Bootsteg von Gilge vor Anker gehen. An beiden Seiten des Flusses stehen alte Fischerhäuser aus Holz und Steinhäuser mit holzverkleideten Giebeln. Rote Ziegeldächer leuchten in der Mittagssonne. Jedes Haus hat seinen eigenen Zugang zum Fluss. Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Gänse, Hühner, Enten laufen frei herum, Störche gleiten in der sommerlichen Hitze durch die klare, würzige Luft.

Im Café Ehrlich, den meisten Ostpreußenreisenden durchs Fernsehen bekannt, essen wir zu Mittag: Flinsen nach ostpreußischer Art, wie sie Mutter nicht besser machen konnte. . .