Man muss sich nur mal einen Moment vorstellen, in einer Klasse hätten alle Schüler eine eins in Mathe geschrieben. Da wäre die Freude freilich groß, doch rasch stünde der Lehrer unter Verdacht, zu leichte Aufgaben gestellt zu haben, und die Schüler würden des kollektiven Pfuschens bezichtigt. Aber auch die Leistungsstarken würde es verdrießen, weil sie mit ihren Fähigkeiten gar nicht glänzen konnten. Sie wären bloß Durchschnitt. Im Pflegebereich können die Anbieter seit Einführung der Prüfungen von Heimen und ambulanten Pflegediensten vor vier Jahren spielend Bestnoten erlangen. Der Durchschnitt liegt bundesweit bei 1,2. Pflegekassen und Heimbetreiber haben sich jetzt auf strenge Maßstäbe geeinigt, damit es schwieriger wird, die Bestnote zu erlangen.

Für Martin Behmenburg, der in der Stadt einen ambulanten Pflegedienst betreibt, sind das aber nur kosmetische Änderungen, die am Kern des Problems vorbeigehen. Und das besteht darin, dass der Medizinische Dienst der Krankenkasse die Pflegeleistung ausschließlich nach Aktenlage beurteilen muss. Zwischen Dokumentation und Realität kann aber eine große Diskrepanz bestehen. Wenn abgefragt wird, ob der Patient nach seinen Wünschen gewaschen worden ist, und das in der Dokumentation vermerkt ist, heißt es noch nicht, dass es auch tatsächlich geschehen ist. Und außerdem wird das System dadurch pervertiert, wie Sozialdezernent Ulrich Ernst beklagt, dass tendenziell mehr Zeit für die Dokumentation als für die tatsächliche Pflege aufgewandt werden muss. Nicht dokumentiert gilt als nicht gemacht. Mit der Pflegenote werde dann schließlich die Dokumentationsleistung beurteilt. Roland Angenvoort, Regionaldirektor der AOK, stimmt in die Kritik grundsätzlich ein und sieht auch, dass die durch den Pflege-TÜV erhoffte Transparenz für Patienten und Angehörige nicht hergestellt werden kann. „Die Änderungen sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber Patienten und Angehörige müssen sehen können, welchen Schwerpunkt die Einrichtung hat“, sagt Angenvoort. Es könne nicht sein, dass eine gute Menükarte den selben Stellenwert hat, wie die richtige Lagerung in der Pflege.

Echte Transparenz kann aber auch nur erzielt werden, wenn bei den Kontrollen direkt die Realität in Augenschein genommen wird. Und genau daran wird seit Monaten gearbeitet, dem Aufbau einer Mülheimer Prüfinstanz. Ernst findet es bemerkenswert, dass der Impuls dazu von den Pflegediensten und -heimen selbst gekommen ist und sie an dieser Konzept im Rahmen der Dialogoffensive Pflege engagiert arbeiten. Regelmäßig treffen sich die Akteure aus dem Pflegebereich. Das nächste Treffen ist für die kommende Woche terminiert. Noch in diesem Herbst, so kündigt Behmenburg an, soll es in Kooperation mit der städtischen Heimaufsicht einen Probelauf geben. Er sieht darin dann auch die richtige Nagelprobe: Wer stellt sich freiwillig einer praxisnahen und echten Qualitätskontrolle, wenn am Ende statt 1,2 nur ein 2,1 herauskommt, aber sich daran nicht alle der rund 30 Pflegedienste und 16 Heime beteiligen? Es wird auch etwas kosten, zumindest in der Erprobungsphase, das ist auch Ernst klar. Denn wenn man etwas ausprobiert, ist das mit all den Versuchen und Irrwegen aufwendiger als einem standardisierten Routine zu folgen. Deshalb bemüht sich die Stadt für dieses Modellprojekt beim Land um eine Förderung. Alle, die davon gehört haben, finden das gut“, sagt Angenvoort, der auch dafür bei seinen Kollegen von der Knappschaft geworben hat, die für Mülheim zuständig sind, wenn es um die Pflegefördersätze geht.

Behmenburg treibt aber noch ein ganz anderes Thema um: die Anzahl der Pflegebedürftigen nehme deutlich zu. „Das schaukelt sich seit Jahren hoch“, sagt er, was aus unternehmerischer Sicht prinzipiell positiv sei. Aber es fehle das Personal, die Kapazitäten seien ausgeschöpft, die Fluktuation hoch, der Beruf habe einen schlechten Ruf und werde schlecht bezahlt. Die Ausbildungsoffensive ändere daran wenig. Die Zunahme von Anträgen bestätigt auch der Mann von der Krankenkasse. Das liege auch daran, dass die neuen Leistungen (Pflegestufe 0) sich rumsprechen. Auch Ernst spricht von einer hohen Auslastung.

Das Pflegepersonal müsse besser bezahlt werden, darin sind sich alle drei einig.