Marlis Langen (84), geborene Stinshoff, erinnert sich lebhaft an ihre Kindheit und Jugend an der Eppinghofer Straße 153. Ihr Vater handelte Pferde und verkaufte Futtermittel.1960 wurde das alte Gehöft abgerissen.
Die Eppinghofer Straße ist eine laute und bunte, an manchen Stellen auch arg in die Jahre gekommene Straße, auf der viele Menschen aus noch mehr Ländern der Welt zusammen wohnen und einkaufen. Menschen, die vielleicht gar nicht darüber nachdenken, dass auch vor ihrer Zeit sich hier einst große Familien zu Hause fühlten. Kaum zu glauben, dass es einmal eine Zeit gab, da es beschaulich in Eppinghofen zuging. Drehen wir die Zeit einmal zurück um 100 Jahre, als Eppinghofen fast noch ein Dorf war…
Da stand auf der Eppinghofer Straße 153, an der Stelle, wo jetzt das große türkische Obst- und Gemüsegeschäft ist, das Fachwerkhaus der Familie Auf der Nöllenburg, ein großer Bauernhof mit Stallungen und Scheune, erbaut vor rund 240 Jahren, als Vorwerk von Schloss Broich. Viele alte Mülheimer können sich noch an den Namen Auf der Nöllenburg und den Hof erinnern, denn es war eine alt eingesessene Bauernfamilie. Gegenüber lag der Hof Falkenburg auf einer Anhöhe, jetzt Klöttschen. Beide Höfe waren feste Begriffe in Eppinghofen und vielleicht der Beginn dieses Stadtteils.
Marlis Langen (84), geborene Stinshoff, berichtet vom damaligen Leben in Eppinghofen, als die Straße hier noch ruhiger war und alles langsamer ging, und sie erinnert sich an die Zeit ihrer Kindheit, als sie mit ihren Eltern Maria und Emil Stinshoff in dem alten bäuerlichen Fachwerkhaus an der Eppinghofer Straße 153 lebte.
Orginal-Ursprungsbalken existiert noch
Wann genau ihr Elternhaus erbaut wurde, lässt sich feststellen. „Da müssen Sie mal mit in mein Wohnzimmer kommen, da zeige ich Ihnen den original Ursprungsbalken, den haben wir nach dem Umzug in unser neues Mehrfamilienhaus in die Wand eingelassen.“ 1777 entziffern wir mühsam. Ein toller Hinweis, wie alt Eppinghofen schon ist. Auch ein großes Bild des Fachwerkhauses hängt im Flur und erinnert sie noch an ihre Jugendzeit auf der Eppinghofer Straße. „Ja, da bin ich groß geworden“, sagt Frau Langen. Und dann geht sie ein Stück weiter zurück in die Vergangenheit.
Die Inschrift des Ursprungsbalkens kennt Marlis Langen auswendig:
Wer ein- und ausgeht durch die Thür, der bedenke für und für
Dass unser Heyland Jesus Christ die rechte Thür zum Leben ist.
Hermann Ter Jung Auf der Nöllenburg und Katharina Ter jung. Anno 1777
Großer Bauer Auf der Nöllenburg
„Meine Mutter kam mit 19 Jahren von Selbeck nach Eppinghofen und heiratete Hermann auf der Nöllenburg. Das war im Jahr 1906. Sie stammte von einem kleinen Bauernhof, da gab es fünf Geschwister. Sie wurde also mit ihren 19 Jahren durch ihre Heirat eine Auf der Nöllenburg. Das war hier ein ganz großer Bauer, mit dem herrlichen Fachwerkhaus auf der Eppinghofer Straße. Das war schon was!“
Marlis Langen berichtet, dass die Familie so wohlhabend war, dass die Mutter ihre jüngere Schwester, die mit auf dem Hof lebte, mit Milchsuppe in die Nachbarschaft geschickt hat. Dort gab es viele ärmere Leute, die es bitter nötig hatten. Die Milchsuppe hatten sie in „Töten“ gefüllt, das waren große Behälter. „Das sind ganz frühe Erinnerungen meiner Mutter an eine Zeit, als es auch Armut gab, aber das war vor etwa 100 Jahren eine ganz andere Armut als heute.“
Frau Langen zeigt auf dem großen Foto des Fachwerkhauses die Stelle, wo der Ursprungsbalken zu sehen ist. „Und da war auch das Futtermittel-Lädchen. Der Bauernhof lag offen an der Straße, 36 Meter Straßenfront, zwei große Eisentore und drei Eingänge ins Haus. Sonntagsausflügler haben oft bei uns angeschellt und wollten mal aufs „AB“, (altes Wort für Toilette). Und die Tür zur Straße hin war immer so staubig, ganz oft mussten wir die abwaschen.
Die Eppinghofer Straße war ja immer schon belebt, es war eine Einfallstraße zur Stadtmitte, aber nicht so breit wie heute. Saßen wir vorne in unserem Zimmer, schraken wir auf, wenn die Straßenbahn am Fenster vorbeirumpelte. Im Winter, wenn die Gleise gefroren waren, quietschte es schrecklich in der Kurve. Wenn wir die Straßenbahnfahrer in der Gaststätte Glocke, Ecke Bruchstraße, getroffen haben, die saßen da oft mit ihren dicken Taschen, haben wir denen gesagt, fahren Sie doch nicht immer so nah bei uns vorbei. Das gab ein Gelächter.“
Frau Langens Mutter Maria führte also vor etwas über 100 Jahren mit ihrem ersten Mann Hermann auf der Nöllenburg hier den Bauernhof. Da wurde Milch direkt aus dem Haus verkauft, morgens und nachmittags. In ihrem Stall standen 36 Milchkühe. Sie weideten auf den Wiesen in der Bruchstraße, in Winkhausen, im Eppinghofer Bruch, bis Eppinghofen immer mehr städtisch wurde, etwa ab den 1930er Jahren.
Witwe nach nur sechs Jahren
„Meine Mutter wurde nach nur sechs Jahren Ehe Witwe. Hermann auf der Nöllenburg ist im Dezember 1912 mit seinen Pferden an der Sandstraße tödlich verunglückt, da wo jetzt die Feuerwache ist. Meine Mutter blieb lange Jahre allein, bis sie meinen Vater Emil Stinshoff kennenlernte. Er war ein Bauernsohn aus dem Schwarzbachtal bei Ratingen, der aber in Düsseldorf eine kleine Molkerei betrieben hatte. Er war ebenfalls Witwer, seit 1919. Sie heirateten im Jahr 1920.
Im September 1924 wurde ich geboren. Mein Vater war kein Bauer, er handelte Pferde und verkaufte Futtermittel für Kühe und Pferde. Mein Vater ist immer in Schlips und Kragen rumgelaufen.
Das habe ich gar nicht anders gesehen, der hat nicht körperlich gearbeitet. Wir hatten Knechte, die fuhren früher mit Pferdewagen, später hatten wir LKW und fuhren damit das Futter aus.
Ländliches Eppinghofen
„Meine Eltern waren ja schon sehr alt, meine Mutter wurde bald 40 als ich geboren wurde, und mein Vater 50. Für mich war das gar nicht so einfach. Aber ich hatte eine schöne Kindheit.
Eppinghofen war noch ländlich, das änderte sich erst in den 1930er Jahren. Wenn die Sippe zusammen war, turnten wir Kinder im Heu und Stroh herum. Ich liebte die Pferde, von denen immer zwei oder drei im Stall standen.
Ab 1930 ging ich in die Mellinghofer Schule, dann zum Lyzeum, also zur Luisenschule. Ich sollte einmal ein bequemes Leben haben, in der Schule gut lernen und später studieren, wie meine beiden Halbgeschwister. Dabei hätte ich die Schule lieber heute als morgen verlassen. Ich war einfach am liebsten auf dem Hof.
Es war ein großes Haus, die Räumlichkeiten brauchten wir aber auch für so viele Leute. Wir hatten damals immer 15 Personen am Tisch sitzen: Verwandtschaft, Knechte, zwei Mädchen hatten wir auch immer, und wir Kinder.“
Im Krieg um 1939/40 richteten Emil und Maria Stinshoff schnell den kleinen Futtermittelladen ein, damit die Leute auch kommen konnten, um Futter für ihre Tiere zu kaufen. Wer Vieh halten konnte, hat das getan, vom Kaninchen bis zum Schwein. Und so rettete sich die Familie Stinshoff über die schlechte Zeit mit dem Verkauf von Buchweizenmehl, Sämereien, Kunstdünger, Taubenfutter, Hühnerfutter, Legemehl, Schweinefutter, Pferdefutter, Heu, Hafer, Stroh….alles was man eben kriegen konnte: Stroh und Heu von den Bauernhöfen, das andere Futter kauften sie von reisenden Agenten.
Nur ein Foto existiert
Und dann sucht Frau Langen eine alte WAZ von vor 50 Jahren, ordentlich vergilbt, heraus. „Dies ist das einzige Foto, auf dem der Futtermittelladen (rechts) zu sehen ist. Das Hoflädchen war eigentlich gar kein richtiges Geschäft, sondern ein abgetrennter Teil vom ehemaligen Stall. Aber das war alles gut hergerichtet, wir hatten eine stabile, gezimmerte Theke hineingestellt, es gab Regale und Fächer für das lose Korn und natürlich auch eine große Waage. Ich liebte das Abwiegen besonders. Wir füllten das Futter in 2,5 kg Tüten aus doppeltem Papier ab, bedruckt mit „Emil Stinshoff Futtermittel“. Es gab eine Klingel an der Tür, denn wir hatten natürlich keine Verkaufshilfe. Wenn der Laden eigentlich geschlossen war, suchten uns die Kunden überall auf dem Hof. Wir waren ja mit ihnen vertraut und manche kannten wir jahrelang. Mit etwa 14 oder 15 Jahren half ich sehr gern im Laden mit. Aber meine Mutter sagte immer: ‚Das kannst Du nicht und das brauchst Du nicht.’ Ich sollte lieber was Richtiges lernen. Aber wenn keiner guckte, ging ich trotzdem in den Laden. Wenn ich an den Laden zurückdenke, habe ich immer noch den Geruch in der Nase, diese besondere Mischung aus Heu und Korn, die einen umfing, wenn man eintrat.
Alle Händler Eppinghofens kamen mit Pferd und Wagen auf den Hof gefahren und kauften bei uns Futtermittel ein. Es kamen Nachbarn wie der Milchmann Dörnhaus, die Kaltbäcker aus der Gegend, die Gemüsehändler, die Metzger. Die Händler fuhren damals ja alle noch mit Pferd und Wagen durch Mülheim. Sie kauften meistens etwa 20 Pfund Häcksel, das ist klein geschnittenes Heu, 20 Pfund Mischfutter, das ist Hafer gewalzt und Melasse, ein oder zwei Bund Stroh und ein Bund Heu. Wir nahmen nur wenig Geld ein, das war ja auch nicht unser Haupterwerb. Das Bund Heu kostete vielleicht 2 Mark, ein Bund Stroh 50 Pfennig. Wir brachten aber auch fertig abgewogene Tüten und Säcke „durch die Honnschaft“.
„Häcksel wurde bei uns alle paar Tage oder nach Bedarf in der Scheune oben geschnitten. Da stand unsere Häckselanlage. Der Häcksel wurde von oben durch ein Rohr nach unten geschüttet.
Wenn die Kunden kamen, dann mussten sie Säcke mitbringen und die haben sie drunter gehalten. Ich habe dabei geholfen. Es war ein bäuerliches Leben hier in Eppinghofen. Es war immer was los bei uns auf dem Hof.
Nach dem Krieg gab es nicht mehr so viele Pferdewagen. Von da an wurde den Kunden das Futter für ihre Pferde mit dem LKW gebracht. Ganze Wagenladungen Heu oder auch mal einen ganzen Zug Stroh schaukelten sie durch Eppinghofen.
1946 heirateten Marlies Stinshoff und Hermann Langen. Haben die Bomben im Zweiten Weltkrieg das alte Bauernhaus verschont? „Nein, im Krieg waren bei uns sämtliche Teile aus dem Fachwerk herausgeflogen. Es war eine Fliegerbombe niedergegangen, da konnte man von vorne bis hinten durchs Haus durchgucken. Die Balken standen aber noch. Das haben Handwerker wieder instand gesetzt. Die ganze Eppinghofer Straße hatte ja viel abgekriegt. Die schönen alten Häuser, alle kaputt. Schräg gegenüber die Villa von Dr. Rosorius ist aber heil geblieben.
Marlies Langen erinnert sich weiter: „Eppinghofen veränderte sich nach dem Krieg, wurde immer größer, neue Häuser und Straßen entstanden, das Ländliche verschwand völlig. Dadurch wurde es immer weniger mit dem Verkauf der Futtermittel in dem kleinen Laden. Mein Mann hat schließlich nur noch das verkauft, was Pferde brauchen. Es gab ja bald auch keine Tiere mehr in Eppinghofen. Niemand hatte mehr Hühner, Tauben, Gänse, Schweine, Schafe. Nur noch in Winkhausen, im Eppinghofer Bruch, am Winkhauser Talweg, in der Bonnstraße - manche Leute dort hatten noch ein kleines Stückchen Wiese, wo sie ihre Tiere hielten. Das war ja manchmal nur noch eine Gewohnheit oder Anhänglichkeit zu den Tieren. Wir haben dann den Laden letztendlich aufgegeben, da war ja nichts mehr drin zu verkaufen. Er stand leer. Das war so um 1950. Ich hatte in der Zeit anderes im Kopf, wir gründeten eine Familie und hatten zwei kleine Kinder.“
War Emil Stinshoff schon kein „echter“ Bauer mehr, sondern ein Pferdehändler, so hat Schwiegersohn Hermann Langen sich mehr um Pferdetransporte gekümmert. Marlis Langen: „Wir haben 1948 den ersten Pferdewagen, also einen LKW Transportwagen gehabt, da stand „Mülheimer Rennverein“ drauf, dabei war das unserer.
Dann ging das los mit den Rennpferden und Turnierpferden. Die mussten zu den Plätzen gefahren werden. Nach und nach wurden die hellen LKWs mit Anhängern angeschafft. „Rennpferde“ stand darauf. Und „Emil Stinshoff“, in roter Schrift. In Eppinghofen kannte jeder die markanten LKWs. Zuerst machten wir Pferdetransporte zur Rennbahn Raffelberg, kurz darauf kamen schon die Gelsenkirchener und die Dortmunder Rennbahn dazu. Wir hatten so viel zu tun am Wochenende, dass wir unsere Fahrzeugeinsätze richtig gut planen mussten. Das war eine logistische Aufgabe.
„Emil Stinshoff Pferdetransporte“ besteht heute immer noch unverändert, 1925 gegründet als Futtermittelhandlung, jetzt also im 83. Jahr. Die Firma ist natürlich ausgelagert worden, denn hier konnten ja keine LKWs mehr rangieren, das war inzwischen durch die Bebauung der Eppinghofer Straße nicht mehr möglich. Mein Mann ist dann mit der Firma nach Saarn gegangen, auf einen Bauernhof. Dort machte er weiter mit der Firma, und da ist meine Tochter heute noch beschäftigt.“
Trauriges Ende der Geschichte
Was wurde nun aus dem Elternhaus, aus dem alten Gehöft auf der Eppinghofer Straße? „Ach ja, unser alter Bauernhof… das ist noch eine etwas traurige Geschichte.
Im Dezember 1959 war unser Mehrfamilienhaus auf der Engelbertusstraße fertig. Nun war es beschlossene Sache, dass wir umziehen würden. Ich war voller Erwartung und Freude. Ich wollte nur noch auf die Etage, bloß kein altes Haus mehr! Und dann geschah das Unerwartete: Hier oben in der neuen Wohnung hatte ich schreckliches Heimweh! Ich stand hier auf dem Balkon und habe immer da rübergeguckt. Wie habe ich es vermisst! Ich sagte immer, ich hab Heimweh nach Eppinghofen, dabei war ich doch nur einen Steinwurf entfernt. Das alte Fachwerkhaus war für mich „Eppinghofen“.
Wann wurde das Bauernhaus abgerissen? „Am 14.3.1960“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Zwei Tage nach der Beerdigung des Vaters. Er hat also den Abriss seines Hauses nicht mehr miterlebt. Denkt sie noch manchmal an das alte Fachwerkhaus? „Täglich! Ich schaue ganz oft vom Fenster oder Balkon aus in die Richtung, wo unser Hof stand. Und denke an mein gutes altes Eppinghofen.“