Beim WAZ-Thema der Woche spazieren wir in sechs Folgen durch alte Eppinghofer Geschäfte. Ehemalige Ladenbesitzer kramen in ihren Erinnerungen und in alten Fotos. Ein Blick in das vergangene Jahrhundert.
Gerne erinnern sich ältere Menschen an vergangene Zeiten. Sie denken an Menschen, die ein Stück des Wegs mit ihnen gegangen sind, vielleicht Nachbarn, vielleicht Ärzte, vielleicht Verkäuferinnen. Ab und zu kommen sie an einem Geschäft in ihrer Nachbarschaft vorbei und erinnern sich genau: Hier war früher mal… Im Geiste sehen sie vielleicht die damaligen Ladenbesitzer noch an der Kasse stehen und hören sie sprechen. Dann kommt die wehmütige Frage auf: Was wohl aus denen geworden ist?
In dieser Woche graben wir in der Vergangenheit einiger Eppinghofer Geschäfte und hören den damaligen Ladenbesitzern oder ihren Nachkommen zu, wenn sie von „früher“ erzählen.
Einkaufen heute und damals
Einkaufen vor 30, 40 oder gar 50 Jahren? Wenn sich die jungen Hausfrauen von damals, heute um die 70/80 Jahre alt, unterhalten, sind sie sich einig: Das war früher ganz anders als heute. Außer der Größe der Geschäfte und der enorm gewachsenen Anzahl der Produkte war vor allem das „Gefühl“ ein anderes. Da konnte man sich im Laden noch in aller Ruhe überlegen, was man heute kochen wollte.
Und plante nicht schon für die nächsten fünf Tage. Die Hausfrauen kauften noch fast täglich in mehreren Geschäften „um die Ecke“ ein, immer nur so viel, wie sie in ihren Körben, Einkaufstaschen und Beuteln tragen konnten. Plastiktüten kamen erst später auf. Einkaufswägelchen auf Rädern in der heutigen Form waren unbekannt. Wenn ein Auto überhaupt zur Familie gehörte, brauchte es der Herr des Hauses, um damit zu Arbeitsstelle zu fahren. Einen Zweitwagen hatte man nicht, brauchte man auch nicht. Alle wichtigen Läden lagen ja in der Nähe.
Gewaltige Auswahl in den Stadtteilen
In den Stadtteilen gab es viel Auswahl bei den Geschäften des täglichen Bedarfs, so auch in Eppinghofen. Mehrere Lebensmittelläden gab es, mindestens fünf Metzgereien, drei Bäckereien, drei Blumenläden, zwei Apotheken, drei Schreibwarenläden, zwei Drogerien, zwei Käse- und Milchgeschäfte, eine Wäscherei, Reinigung, Obst- und Gemüsehändler, Tabakladen, Tapetengeschäft, Eisenwarenhandel, Uhrengeschäft, Wäschegeschäft. Unzählige Friseure natürlich, viele Wirtschaften. Der Einzelhandel blühte. Die große Zeit der Supermärkte sollte erst ab Mitte der 1970er Jahre beginnen
Die Lebensmittel- und Feinkostgeschäfte hatten alles, was man täglich brauchte: WurstEierKäseMehlZuckerSalz, KartoffelnButterBüchsenmilchSchokolade, TeeBackpulverBohnenkaffeeLindeskaffeeMargarineKonserven, PutzmittelWaschmittel, NudelnReis. Alles andere kaufte man in den Fachgeschäften: Frisches Brot beim Bäcker Heimbach oder bei Rasche, frisches Fleisch bei Metzger Kaiser-Krebber oder Schluppkothen, Obst und Gemüse bei Latte, Milch bei Dörnhaus. Solche kleinen Geschäfte des täglichen Bedarfs gab es bis in die 1970er Jahre hinein auf der Eppinghofer Straße zuhauf. Das kleine Fachgeschäft nebenan gibt es heute nur noch selten, viele inhaber-geführte Läden werden aussterben. Nicht nur in Eppinghofen.
Einkaufen kann so richtig gesellig sein
Und es gab immer was zu erzählen im Laden. Oft traf man dort oder auf dem Weg die Nachbarin. Einkaufen konnte so gesellig sein. Man wurde mit Namen begrüßt und verabschiedet und kannte die Lebensgeschichte der Ladeninhaber und auch die „Schicksäler“ der Verkäuferinnen, fragte nach den Kindern, kannte sie mit Vornamen.
Die Zeiten haben sich geändert. War früher wirklich alles besser oder ist das eine verklärende und falsche Wahrnehmung? Fest steht: Als es noch an jeder Ecke Geschäfte gab, da waren viele Problemchen des täglichen Lebens gar keine.
Heute sucht man oft lange im Supermarkt, im Baumarkt oder in den Abteilungen der Kaufhäuser: Erst nach einem Fachverkäufer (der nie da ist) und dann auf eigene Faust nach dem passenden Ersatzteil – das seltene Gewürz, bestimmte Kuliminen und Tintenpatronen, Glühbirnen mit der richtigen Fassung, den ganz besonderen Leim für bestimmte Tapeten, bestimmte Schräubchen für bestimmte Muttern, bestimmtes Nähgarn für bestimmte Stoffe….
Früher machte sich die Hausfrau mal eben auf zum Fachgeschäft in der Nachbarschaft und wusste: Hier ist guter Rat nicht teuer, und es wird mir mit Sicherheit geholfen. Geschäftsinhaber oder Verkäuferin wurden mit ihrem Fachwissen oft zum rettenden Engel. Ein Griff und das gewünschte Teil ging über den Ladentisch. Erleichterung machte sich breit. Das Lächeln und die Anrede mit Namen gab es gratis dazu. „Schönen Tag noch“ – nein, so wie heute die Damen an der Wursttheke und an der Kasse mechanisch sagen, was sie gar nicht meinen, das war damals nicht üblich zu wünschen. Aber stattdessen bekam man vielleicht hinterher gerufen: „Wat macht Euer Omma? Gute Besserung noch. Und schönen Gruß zu Hause!“ Und das war ehrlich gemeint.
Rückblende, 1950er und 1960er Jahre
In diesen Zeiten Kind zu sein, das bedeutete auch, für die Mutter in diese kleinen Fachgeschäfte geschickt zu werden. Bruchstückhafte Erinnerungen an die Kindheit. Kleine Einkäufe mit Markstücken und Groschen, die die Mutter in den Zettel eingewickelt hatte.„Dat gibste anne Theke ab, hab ich alles draufgeschrieben, die wissen dann schon Bescheid. Verlier dat bloß nich, dat is viel Geld, hörsse? Lass dir die Rabattmarken geben, nicht vergessen!“
So sprachen Mütter in den 1950/1960er Jahren zu ihren Sechsjährigen, die des Lesens noch nicht mächtig waren, aber schon – sich der Wichtigkeit ihres Tuns sehr bewusst – einkaufen geschickt wurden.
Eben mal was einkaufen gehen, vielleicht ein oder zwei Teile, die die Mutter vergessen hatte oder die sie gerade schnell zum Kochen brauchte – ins nächste Geschäft zu laufen, das war für Kinder nicht ungewöhnlich. „Was musst du denn holen, Frolleinchen?“ fragte Frau Tittgen. Die Sechsjährige ärgerte sich. Lieber sollte sie sagen: „Bitte schön, was darf es sein?“ Schließlich war man ja fast erwachsen, ging schon zur Schule.
Das Himmelreich auf Erden
Für die Mutter einkaufen zu gehen, das war allein schon deshalb schön, weil man da beim Zoogeschäft Paas vorbeikam und im Schaufenster die Schildkröten, Wellensittiche und das Äffchen in seinem Glaskasten angucken konnte. – Kind, wo warste denn bloß wieder so lange? War es denn bei Tittgen so voll? – Och ja.
Ich sehe sie vor mir, die Geschäftsinhaber, die Verkäuferinnen, die mir eine Scheibe Wurst über die Theke reichen oder sogar einen winzigen Kirsch-Dauerlutscher, ein Himmelreich für das kleine Kind. Ich höre sie mit meiner Mutter sprechen, manchmal über mich, wie groß ich geworden sei, und ich muss Fragen beantworten, wann ich in die Schule komme. Ich höre die große graue Kasse rappeln und kenne die Stimme des Geschäftsinhabers, der die Preise dazu laut ansagt. Und beim Hereinkommen klingelt in manchen Läden sogar noch ein Glöckchen. Man sagt: Guten Tag. Und jemand schaut hoch und antwortet.
Ich nehme Gerüche wahr. Bei Stinshoff riecht es nach Heu und Hafer, bei Karpenstein nach Papier und Zigarre, bei Kaiser-Krebber nach Fleischwurst, bei Latte nach Apfelsinen, bei Tittgen nach Käse. Und dieser Brotduft beim Bäcker und das Fischfutter bei der Zoohandlung… Ich habe sie noch in der Nase, die verheißungsvollen Düfte in den Läden von Eppinghofen.
Wieder ein Bild, das das Gedächtnis langsam ausspuckt: Es ist dunkel und kalt, viele Autoscheinwerfer auf dem Asphalt. Schneematsch. Der 10. November, der Tag vor Sankt Martin. Sinter Määtes. Die Nachbarskinder haben sich draußen auf der Eppinghofer getroffen und zeigen sich gegenseitig in ihrem Beutel, was sie schon ersungen haben.
Tipps machen die Runde: Die geben nix. Der gibt wat. Da macht keiner auf, obwohl Licht an ist. Warsse schon bei Tittgen? - Einzeln in den Laden kommen und singen war nicht so gern gesehen. Es wird nachher um 6 Uhr geschmissen, sagen die Verkäuferinnen.
Pünktlich stellt sich Frau Tittgen mit einem großen Weidenkorb auf das kleine Vordach neben den beleuchteten Tittgen-Schriftzug und dann macht sie ihren eigenen Chrubbel Chrabbel, das heißt sie wirft mit vollen Händen Bonbons, Nüsse und Süßes von oben auf die krabbelnde Menge Kinder vor ihrem Geschäft. Vorher müssen „die Blagen“ natürlich aus vollem Halse singen. Sssinter Määtes Vögelsche, hätt sonn root kapögelsche….. Das Lied kannte damals jedes Kind in Mülheim. Singen, bücken, krabbeln und Frau Tittgens Gaben in den „Büll“ stopfen.
Altmodische Kassen können so spannend sein
Und dann kommt noch ein Bild von ganz weit her: Herr Tittgen mit seinem kurzen, grauen Kittel, mit oder ohne Hut steht er an der Kasse. Es ist demnach Samstag. Er nimmt die Lebensmittel aus dem kleinen drahtigen Einkaufskorb von links nach rechts und bongt die Preise in die altmodische Kasse mit den vielen hoch stehenden Tasten.
Dabei sagt er mit lauter Stimme in den Laden hinein: Zweifünfzig, Einsachtundneunzig, und die Butter 65 Pfennig. Dann hätten wir genau Fünfmarkunddreizehnpfennige. Und hier sind noch Ihre Märkchen. - Das Kind steht winzig vor der Theke, schaut andächtig nach oben, wo die Zahlenschilder im Rückfenster der mechanischen Kasse erscheinen und wünscht sich so eine Kasse zu Weihnachten. Aber bitte mit Kurbel, ganz wichtig, zum dran drehen. Frau Tittgen in ihrem langen weißen Kittel lächelt mit Grübchen in der Backe über den Kinderwunsch und rückt zum Trost ein klebriges rosa Himbeerbonbon aus dem großen Glas heraus. Ich hab auch ne Kurbel, willze die mal sehen? Damit fahre ich jetzt die Markise draußen ein, es ist ja gleich ein Uhr, wir machen jetzt Mittagspause. Wieder andächtig nach oben schauen. Frau Tittgen kurbelt. Noch ein Weihnachtswunsch ist geboren. - Komm Kind, wir müssen noch kochen. Gibt Nudeln mit Dörrobst, sagt die Mutter. Hat sie gerade bei Tittgen gekauft.
Die Geschäfte von damals in Eppinghofen existieren schon lange nicht mehr. Schaut man genau hin, dann sieht man noch über der einen oder anderen Ladentür den alten Namen stehen. Verblasst. Staubig. Manchmal, wenn ich über die Eppinghofer Straße gehe, geht mir durch den Kopf: Wat war da früher noch mal?
Lebendige Bilder im Gedächtnis
Und das Gedächtnis spuckt die Antwort überraschend deutlich aus, ich sage im Geiste: Hier war Paas, hier war Tittgen, hier war Schluppkothen, hier war Heimbach, hier war Latte, hier war Steinberg, hier war Lazzaris, hier war Rasche, hier war Stinshoff, hier war Karpenstein, hier war Kaiser-Krebber, hier war Dörnhaus……Lang lang ist’s her.
Ich schaue in die Schaufenster, oft sind sie leer. Spiegelt sich darin ein altbekanntes Gesicht und winkt mir im Vorübergehen zu? Ein kleines, vergessenes Geschäft. Vor vielen Jahren war es mal wichtig. Nun nicht mehr. Was bleibt, ist der traurige Anblick von Fensterscheiben und Eingangstüren, die mit Papier zugeklebt sind.
Eppinghofer Straße, Du hast Dich sehr verändert. Du bist alt geworden. Warst Du immer schon so grau und schmutzig? Mir ist das nie aufgefallen. Es sind andere Menschen, die mir heute begegnen. Sie wohnen und leben auch schon viele Jahre in Eppinghofen und fühlen sich hier zu Hause. Ich kenne sie nicht und sie mich auch nicht. Sie wissen nicht, wie es hier früher einmal war. Denken sie darüber nach, dass auch vor ihnen Menschen in diesen Läden eingekauft haben? Es ist schön, dass es immer noch ein paar Geschäfte gibt, mit ihren bunten Farben und fremdartigen Gerüchen. Es duftet sehr gut darin. Anders. Die Leute sehen freundlich aus. Aber ich fühle mich fremd hier. Dies ist nicht mehr mein Eppinghofen.
Das ist der Lauf der Dinge, sagt meine alte, kluge Mutter, die ihre Einkäufe damals hier erledigt hat und immer noch auf der Eppinghofer Straße wohnt, da, wo sie vor über 50 Jahren eingezogen ist. Die Welt verändert sich ständig. Mülheim macht da keine Ausnahme. Und so nehme ich Abschied von den Läden meiner Kindheit in Eppinghofen.