32 Jahre führen Hans und Edith Karpenstein ihr Schreibwarengeschäft. 1983 schließen sie den Laden. Die Tochter Ingrid Peter erinnert sich an den Alltag zwischen vollgestopften Regalen.
Hans Karpenstein, gebürtiger Borbecker, führte sein Schreibwarengeschäft über 30 Jahre lang in Eppinghofen. Auch seine Frau Edith arbeitete im Geschäft mit. Später sollte es einmal die Tochter übernehmen. Wie hat es damals überhaupt angefangen mit dem Laden?
Ingrid Peter, geborene Karpenstein, erinnert sich: „Das muss 1951 gewesen sein, denn meine Eltern haben immer gesagt, dass ich zwei Jahre alt war. Meine Mutter kam aus Pommern ins Ruhrgebiet. Sie war im Krieg vertrieben worden, ihre Eltern hatten dort einen großen Bauernhof zurückgelassen.
Nach dem Krieg gab es dafür als „Lastenausgleich“ 2000 DM. Damit haben meine Eltern das Geschäft dem Herrn Siegfried Kuhnen abgekauft. Der hatte noch ein weiteres Schreibwarengeschäft in Speldorf. Das Geld reichte natürlich nicht, aber es war ein Anfang. Meine Eltern haben noch mehrere Jahre daran abbezahlt. In den Leihbüchern, die sie mit übernommen hatten, stand auch noch lange Jahre der Stempel „Siegfried Kuhnen.“ Das Geschäft der Karpensteins lief noch eine ganze Weile unter dem Namen Kuhnen, weil der Vater quasi als Angestellter gearbeitet hat, so erinnert sich Ingrid Peter. „Dadurch hat er die Anerkennung als Kaufmann bekommen. Durch die Kriegswirren waren ja Urkunden und Zeugnisse abhanden gekommen“.
Hans und Edith Karpenstein waren Anfang 30, als sie den Laden übernahmen. Das junge Ehepaar hat in diesen Nachkriegsjahren alles in eine neue Existenz investiert, ein sehr guter Schritt für sie damals. „Es ist gut gegangen. Damals fehlte es ja noch an so vielem in diesen Aufbaujahren“, sagt Ingrid Peter. „Supermärkte gab es noch nicht. Überall eröffneten ganz viele kleinere Geschäfte. Auch auf der Aktienstraße.“
Ingrid Peter: „Dieses Foto muss ganz alt sein, weil man im Spiegelbild der Schaufensterscheibe noch das damals gegenüberliegende Geschäft sieht, der Friseur-Herrensalon Giese.“
Es war immer so voll
„Meine Mutter musste die ersten zwei Jahre, 1951 und 1952, ganztags mit in den Laden, es war immer so voll. Ich blieb in der Zeit bei meiner Oma. Es gab eigentlich keine Konkurrenz auf der Aktienstraße und der Eppinghoferstraße. Der Laden lief gut und war vollgestopft mit Waren. Vergrößern ging ja nicht. Wo irgendwas hinpasste, da lag oder hing das dann. Nachher kam auch noch Spielzeug hinzu, Kleinspielwaren, wir hatten einfach alles. Und wenn etwas fehlte, wurde auch auf die Kundenwünsche eingegangen.“
Als Ingrid vier Jahre alt war, nahm ihre Mutter sie nachmittags immer mit in das kleine Geschäft. Kindheitserinnerungen an den kleinen Laden der Eltern? „Ich mochte den Geruch, eine Mischung aus Papier und Vaters Zigaretten.“
Was gab es zu kaufen? Ingrid Peter zählt auf: „Außer den Zeitungen und Zeitschriften gab es alles für die Schule: Hefte, passende farbige Schonhüllen, Griffel, Tafeln mit Schwämmchen, Füllhalter (es gab nur Pelikan oder Geha), Tinte in Patronen und im Gläschen, Buntstifte, Anspitzer, Radiergummis, Schreibetuis, Wachsmalstifte, Kreide, Uhu, Leim, Schreibmappen. Auch Schulbücher für die Grundschule wurden besorgt, als Sammelbestellung. Mein Vater hat sogar eigenhändig eine selbst geschnittene Plastikhülle um jedes Schulbuch geklebt, das kostete nichts extra.
Es gab Bücher für Kinder, Zeichenblöcke, Plakafarben, buntes Papier für die Drachen. Saisonartikel zu Karneval wie Masken und Hüte, vor Weihnachten das Bastelzeug wie Gold- und Silberfolie, alles Nötige für Kindergeburtstage, Luftballons und so…. Direkt neben der Vitrine lagen kleine Kinderspielzeuge aus, als Geschenke zu verwenden. Mein Vater wusste ja genau was „ging“ und was nicht. Später gab es auch Tempotaschentücher, Toilettenpapier, Servietten, auch Kurzwaren wie Nähgarn, Gummilitze usw. Heute noch habe ich eine Menge Reste davon. Und natürlich hatten wir die Leihbücherei! Die lief sehr gut.“
Und dann erzählt Ingrid Peter von dem kleinen Verschlag hinten im Laden vor dem Gasofen, von mehreren Regalen mit Leihbüchern, von Karteikästen, Karteikarten und von Büchernummern. Gab es eine zeitliche Begrenzung fürs Ausleihen, Mahngebühr, Bücherschwund? Das Gedächtnis spuckt nichts dergleichen aus. Aber an die Leihgebühr erinnert sie sich: 25 Pfennig pro Buch. Und dass sie beim Aufaddieren mithelfen durfte und schon vor allen Mitschülern die 25er Reihe im Kopf rechnen gelernt hat.
Das Kind fand es toll – nur Heiligabend nicht
Wie war das denn als Kind, Vater und Mutter zu haben, die als Ladeninhaber hinter der Theke stehen? Ingrid Peter fand es toll, mit ihren Eltern im Laden zu sein. „Sie waren berufstätig, aber trotzdem waren sie immer für mich da. Ich durfte auch hinter dem Laden spielen, es gab in der Nähe ein Trümmergrundstück. Oder auf dem breiten Bürgersteig, da war ja auch noch nicht so viel Verkehr auf der Aktienstraße.“
Nur der schönste Tag des Jahres, Heiligabend, war für Klein-Ingrid ziemlich schlimm. Denn die Bescherung kam sehr spät und ihre Eltern hatten überhaupt keine Zeit für sie. „Heiligabend im Laden war für meine Eltern purer Stress. Da musste nach Ladenschluss erst noch die ganze Weihnachtsware, die übrig geblieben war, wieder gut verpackt werden, und das Schaufenster wurde in aller Eile umdekoriert. Denn gleich nach Weihnachten blieben nur die paar Tage, um die Silvesterkracher zu verkaufen, vor Weihnachten durfte man das nicht. Und es sollte doch auch für das Kind Weihnachten werden. Zwischendurch ist meine Mutter dann nach Hause gehetzt, hat alles fertig gemacht, die Kerzen angezündet, das Fenster geöffnet („da ist gerade das Christkind rausgeflogen“). Viel später als bei den anderen Kindern, die ich vom Laden aus schon in den Fenstern vor dem Tannenbaum sitzen sah, war für uns dann auch endlich Weihnachten.“
Der Kunde ist König
Hans Karpenstein schloss jeden Morgen um 7 Uhr die Ladentür auf. Die Zeitungen lagen dann schon in großen Packen davor und die ersten Kunden kamen schon vor dem Frühstück. „Vater wusste genau, welche Zeitung oder Illustrierte die Leute immer kauften. Oft drückte er ihnen ihre Zeitung schon in die Hand, bevor sie überhaupt was sagten. Früher war das anders als heute. Man kannte den Namen und das Schicksal der Familie, wusste wie die Kinder hießen. Manchmal wenn nichts los war, hat mein Vater sich mit einem Kunden vor dem Laden lange unterhalten. Er liebte diese Kontakte. Neben unserem Geschäft war der Tapeten- und Anstreicherladen Stemmer. Mit Stemmers verband meine Eltern eine langjährige Freundschaft. Die Männer haben auch oft Skat gespielt oder geknobelt, wenn an heißen Sommertagen nichts los war. Da war auch oft der Friseur Kassebaum dabei.“
Zum Ausgleich mal auf ein Bier über die Straße
Nachmittags zwischen halb 5 und halb 6 war „Hochsaison“. Feierabendzeit, der Laden war immer brechend voll und beide Karpensteins hatten alle Hände voll zu tun. Wenn der Hauptandrang vorbei war, hatte Hans Karpenstein mal eine Stunde „Ausgang“ und seine Frau löste ihn ab. Zum Feierabend um halb sieben kam er wieder zurück. Bei der Gaststätte Frieg an der Kreuzung haben sich die Geschäftsleute von Eppinghofen zum Knobeln, Kartenspielen und Schwatzen getroffen. Kegeln gingen sie auch mal zusammen. „Als Ausgleich“, sagt Ingrid Peters. „Sonst hatten sie ja nicht viel Freizeit.“
Wie alles endete…
Wann war Schluss mit dem Schreibwarengeschäft Karpenstein? Ingrid Peter rechnet hin und her. Es muss doch rauszukriegen sein! Dann kramt sie die alten Kassenbücher hervor, die sie noch aufbewahrt hat, und schaut nach den letzten Eintragungen.
Da steht als letztes Datum in Vaters Handschrift: Februar 1983. Hans Karpenstein war also 63 als er den Laden aufgab, hatte das Alter erreicht, wo man sich zur Ruhe setzte. Er starb 1988 mit 68 Jahren. „Da hatte er noch ein bisschen was von seiner Rente“, sagt die Tochter. Ihre Mutter starb 1992 mit 69 Jahren.
Was geschah mit dem Geschäft? Ingrid Peter erinnert sich: „Es war lange vorher geplant, dass ich es mal übernehme. Ich hatte inzwischen auch eine kaufmännische Lehre gemacht bei dem wichtigsten Lieferanten meines Vaters, Firma Morawietz in Duisburg. Doch unser Laden lief in den 1980er Jahren nicht mehr so gut, als ich ihn übernehmen sollte. Und die Kinder waren klein, und dann auch noch das Haus. Das ging dann einfach nicht. Die Aktienstraße war nicht mehr das, was sie mal war. Die alten Häuser mit den vielen kleinen, aber wichtigen Geschäften bei uns gegenüber wurden abgerissen, die Aktienstraße sollte verbreitert werden. Dann wurde die Kreuzung Eppinghofer-/Aktienstraße völlig umgebaut, das war eine lange Baustellenzeit. Es war einfach nicht mehr so viel los. Ein Geschäft nach dem anderen gab auf. Damals gab es ja noch einen Milchladen, Dörnhaus, und Kepler, das war ein bekannter Elektroladen, zwei Damen führten den. Später war das Lösche. Es gab genau uns gegenüber den Friseur Giese und einen Gemüseladen. Als die Supermärkte aufkamen, war es vorbei mit den kleinen Läden. Übrig geblieben sind nur wenige und denen geht es viel schlechter als früher. Ein Mann aus Eppinghofen hat den Laden meines Vaters 1983 dann übernommen. Der hat aber nicht alles im Programm gehabt, viel weniger Waren. Verständlich, denn inzwischen gab es vieles woanders billiger. Erst vor etwa zwei Jahren hat der auch Schluss gemacht.
Heute im Dornröschenschlaf
Dann stand der Laden eine ganze Weile leer. Bis vor kurzem war ein An- und Verkauf drin. Was jetzt kommt? Das ändert sich so schnell. Auch nebenan, bei Stemmers – da war erst eine Änderungsschneiderei drin, die gibt’s auch nicht mehr. Man guckt ja doch immer automatisch hin, wenn man vorbei fährt. So viele Jahre war das meine Heimat. “ Ingrid Peter schließt die Kassenbücher und schaut lange auf das aktuelle Foto der beiden Geschäfte. Sie scheinen wie im Dornröschenschlaf vor sich hinzuträumen. Von besseren Zeiten?