Geschichte ist nicht nur vergangen. Sie ist immer auch gegenwärtig und wirkt bis heute nach, egal ob es sich um die selbst erlebte oder um durch Eltern und Großeltern überlieferte Geschichte handelt. Das zeigen die Leserreaktionen auf die NRZ-Berichterstattung über die Diskussion in der letzten Sitzung der Bezirksvertretung 1 (s. Kasten). Soll oder muss man der Luftkriegsopfer und eines Unteroffiziers gedenken, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges die Sprengung der Schloßbrücke verhindert haben soll. Der Bürgerantrag von Jochen Hartmann hat die Diskussion angestoßen, die offensichtlich nicht nur in der Bezirkvertretung geführt wird und die NRZ in ihrem Kommentar am vergangenen Samstag mit Blick auf den Unteroffizier Rudolf Steuer fragen ließ, was die Bezirkvertreter offensichtlich nicht gefragt hatten.
Woher stammt das Wissen über Rudolf Steuer?
Wer sich im Stadtarchiv auf die Spurensuche begibt, kann die Geschichte des Unteroffiziers Rudolf Steuer in einer Serie nachlesen, in der das Mülheimer Tageblatt im Frühjahr 1955 die letzten Kriegswochen im Frühjahr 1945 nachzeichnete. Außerdem erzählen der Heimatforscher Klaus op ten Höfel und der Journalist Franz Krapp in ihren Büchern „Mülheim, wie es war“ und „Mülheim nach 1945“ Anfang der 80er Jahre die Geschichte des Rudolf Steuer.
War Steuer ein Nazi und Befehlsempfänger oder ein Held? Stadtarchivar Rawe war zu der Überzeugung gekommen, Steuer sei nur einem Befehl und nicht seinem Gewissen gefolgt.
Hier führt die Spurensuche auch ins Bundesarchiv und in Steuers saarländische Heimatstadt Merzig. Es zeigt sich: Die Geschichte ist nicht Schwarz-Weiß, sondern hat viele Schattierungen. Eine Anfrage beim Bundesarchiv in Koblenz ergab, dass Steuer im August 1933 in die NSDAP aufgenommen wurde. Dennoch betont seine 79-jährige Nichte Anita Steuer: „Mein Onkel war kein Nazi und hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Ich habe ihn als einen klugen und liebevollen Menschen in Erinnerung.“ Sie weiß, dass ihr 1902 in Andernach geborener und 1981 in Merzig verstorbener Onkel, der seine berufliche Laufbahn in den 30er Jahren als technischer Leiter des Merziger Wasserwerkes begann, seine Stelle nicht bekommen hätte, wenn er nicht Mitglied der NSDAP gewesen wäre.
Der ehemalige Merziger Beigeordnete Alfred Diwersy, der Steuer Anfang der 60er Jahre als einen „klugen, ausgleichenden und besonnen Mann“ kennengelernt hat, „der Menschen überzeugen und mitnehmen konnte, ohne seine Ziele mit der Brechstange durchzusetzen“, weist darauf hin, dass Steuer bereits 1947 zum Technischen Leiter der Merziger Stadtwerke berufen worden ist. „Das hätte die französische Militärregierung niemals akzeptiert, wenn Steuer als politisch belastet eingestuft worden wäre“, betont der 82-Jährige.
In den genannten Quellen des Stadtarchivs erscheint Steuer keineswegs als offener Befehlsverweigerer, aber als verantwortungsbewusster Mann mit einer gehörigen Portion Mut. Zweimal, am 27. März und am 10. April 1945, wurde er mit dem Kriegsgericht bedroht, weil er den Befehl, die Schloßbrücke zu sprengen, nicht ausgeführt hatte - über zwei Wochen lang. Denn als Bauingenieur wusste er, was diese Sprengung bedeutet hätte. Unter der Brücke verliefen Versorgungsleitungen. Obwohl er offenbar mit dem Kriegsgericht bedroht wurde, führte er den Befehl nicht aus und wies einen Gefreiten an, niemanden an die Sprengkammern heranzulassen. Er ließ sich den Befehl schriftlich geben, um anschließend mit dem Standortkommandanten Kontakt aufzunehmen. Durch diese taktisch kluge Verzögerung und die flankierende Überzeugungsarbeit des Oberbaurates Hugo Braun, des Rhenag-Direktors Heitmann und des Oberbürgermeisters Edwin Hasenjaeger wurde die Schloßbrücke nicht gesprengt, sondern nur mit Panzersperren blockiert. Die Sprengladungen waren aber bereits angebracht worden.
Steuer entging an seinem 43. Geburtstag, dem 11. April 1945, vielleicht nur deshalb einem Kriegs- oder Standgericht, weil er an diesem Tag an der Schloßbrücke von den einmarschierenden amerikanischen Truppen gefangen genommen wurde.
Wie viel Mut Steuer gehabt haben musste, um den Sprengbefehl nicht sofort auszuführen, wird deutlich, wenn man weiß, dass es seit Herbst 1944 einen Führerbefehl gab, wonach keine Brücke unbeschädigt in Feindeshand geraten dürfe und in Remagen Offiziere standrechtlich erschossen wurden, weil amerikanische Truppen im März 1945 über die dortige Rheinbrücke, die gesprengt werden sollte, vorrücken konnten.
Warum hat die Stadt Mülheim in der Nachkriegszeit Rudolf Steuer gedankt und geholfen?
Klaus op ten Höfel schrieb in seinem Buch: „Die Stadt Mülheim dankte ihm (Steuer), in dem sie ihm später half, sein bombenbeschädigtes Haus in Merzig wieder aufzubauen.“ Wann und wie die Stadt das getan hat, schreibt der Chronist nicht. Doch die Dankbarkeit der Stadt liegt nahe, denn die Schloßbrücke war bei Kriegsende die einzige intakte Ruhrbrücke der Stadt. Das war nicht nur für die Mobilität, sondern auch für die Trümmerbeseitigung von entscheidender Bedeutung, wie das Foto mit dem Feurigen Elias zeigt, der mit einer Lore voller Trümmerschutt über die Schloßbrücke schnauft.
Zur Erinnerung: Bei Kriegende lagen 800 000 Kubikmeter Schutt auf Mülheims Straßen. Auch Steuers Haus in der Merziger Poststraße war 1944 von alliierten Bomben zerstört worden, sodass die Familie mit ihren beiden kleinen Kindern bis 1949 unter dem Dach eines gegenüberliegenden Geschäftshaus einquartiert werden musste.