„Ich bin keine Biodeutsche“, sagt Vahide Tig und fragt sich: „Einheimisch? Wird man das überhaupt?“ Für die Sozialpädagogin, die vor 48 Jahren in der Türkei geboren wurde und die seit 43 Jahren in Deutschland lebt, macht die statistische Schublade Migrationshintergrund nicht wirklich Sinn. „Entscheidend ist nicht, wo jemand herkommt, sondern in welcher persönlichen Lebenssituation er ist und welche Hilfestellung er vielleicht braucht“, findet die Sozialpädagogin, die im Jugendzentrum an der Georgstraße auch generationsübergreifend mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten arbeitet. Dabei stellt sie immer wieder fest, dass der Migrationshintergrund schnell in den Hintergrund tritt, wenn Menschen sich begegnen, sich persönlich kennen lernen und zusammen etwas machen.

Noch mindestens 50 Jahre

Obwohl Tig seit 1995 „die Rechte und Pflichten einer deutschen Staatsbürgerin genießt“, glaubt sie, dass es noch Generationen, vielleicht 50 Jahre dauern wird, ehe die Zuwanderer aus der Türkei nicht mehr nach ihrem Migrationshintergrund gefragt werden, weil er keine Rolle mehr spielt. „Das hat mit unseren kulturellen und religiösen Unterschieden zu tun, die einfach weiter voneinander entfernt sind“, erklärt sich Tig, warum türkischstämmige Mülheimer eher nach ihrem Migrationshintergrund gefragt werden als die Nachfahren von polnischen oder italienischen Zuwanderern. Integration hat für sie etwas mit Akzeptanz, Toleranz und Wohlfühlen zu tun. In diesem Sinne würde sie sich wünschen, dass junge Menschen aus Zuwandererfamilien die doppelte Staatsbürgerschaft leben könnten und sich nicht mit 23 Jahren für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssten.

Für die gleichaltrige und ebenfalls türkischstämmige Diplom-Pädagogin Serap Tani-Yildirim hat sich das Thema Migrationshintergrund dann erledigt, wenn in Mülheim ein türkischstämmiger Mitbürger zum Oberbürgermeister gewählt oder in Deutschland ein türkischstämmiger Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin gewählt würde. Die Entwicklung dahin vergleicht sie mit der Gleichberechtigung der Afroamerikaner und der Wahl des ersten schwarzen US-Präsidenten Barack Obama. Sie selbst fühlte sich erstmals heimisch, als sie 1987 als deutsche Staatsbürgerin zum ersten Mal wählen durfte.

Bildung, Sprache, Begegnungen und Beziehungen, sind für die Geschäftsführerin des Multikulturellen Familienvereins der Schlüssel zur sozialen Integration und damit zur Relativierung des Migrationshintergrundes. In diesem Sinne ist Tanis-Yilderim davon überzeugt, dass sich ihre Enkel schon nicht mehr als Migranten sehen werden.

Die im St. Marien-Hospital tätige Sachbearbeiterin Sultan Imer wurde 1974 als Tochter türkischer Einwanderer hier geboren und nahm mit 16 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sie räumt ein, dass sie noch sehr stark durch türkische Traditionen geprägt worden sei, während ihre beiden Kinder (15 und 17 Jahre) sich nicht mehr als Zuwanderer sähen. Mit ihrer statistischen Einordnung als Mülheimerin mit Migrationshintergrund hat sie keine Probleme, „weil ich stolz auf meine Herkunft bin.“ Aber sie glaubt, dass die gemeinsame Basis der christlichen Religion und Kultur den Zuwanderern aus Polen, Italien, Spanien oder Portugal das Leben in der Wahlheimat leichter gemacht hat.

„Ich bin hier zu Hause“

Der vor 61 Jahren in der Türkei geborene Integrationsratsvorsitzende Enver Sen sagt nach 42 Jahren in Deutschland: „Ich bin hier zu Hause. Ich bin Deutscher.“ Der Begriff „Migrationshintergrund“ hat aus seiner Sicht dazu beigetragen, „dass die deutsche Sprache noch etwas blumiger geworden ist“ und er hat dem „Schubladendenken“ Vorschub geleistet. Er glaubt, dass kulturelle und religiöse Unterschiede überbewertet werden und viel mehr individuelle Faktoren, wie Sprache, Bildung, Kontaktfreudigkeit und Menschlichkeit über den Integrationserfolg entscheiden. Doch er macht sich trotz mancher Integrationsfortschritte keine Illusion darüber, dass es noch zwei bis drei Generationen dauern dürfte, bis Her Sen ebenso wenig wie Herr Kowalski nach seinem Migrationshintergrund gefragt wird. „Jemanden, der hier schon zehn Jahre lebt, die Sprache beherrscht und sich auch beruflich integriert hat kann man eigentlich nicht mehr als Migranten klassifizieren“, findet der 58-jährige (im Evangelischen Krankenhaus tätige) OP-Pfleger Joao Encarnacao, der vor 42 Jahren aus Portugal nach Mülheim kam. Obwohl er auch heute noch portugiesischer Staatsbürger ist, fühlt er sich als Bürger der Europäischen Union in Deutschland absolut gleichberechtigt. Die Bürger EU-ferner Drittländer haben es aber aus seiner Sicht bei rechtlichen Fragen der Integration erheblich schwerer und werden vielleicht noch 20 oder 30 Jahre brauchen, um dort anzukommen, wo er heute ist.

Der Sozialwissenschaftler Özay Vural, der vor 35 Jahren als Sohn türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren wurde, hält die statistische Klassifizierung dennoch für sinnvoll. Als Mitarbeiter der städtischen Koordinationsstelle Integration hat er ein professionelles Interesse an der Erfassung von Migrationshintergründen, um aus den entsprechenden Zahlen und Fakten Hinweise auf spezifische Hilfsbedürftigkeiten und Handlungsnotwendigkeiten ableiten zu können.