Schmerzende Füße, 14 Stunden hinter der Theke, aber auch wundervolle Erlebnisse mit den Kunden: Elisabeth Tittgen erzählt aus der Geschichte des ehemaligen Lebensmittelladens an der Eppinghofer Straße 124
Das Lebensmittelgeschäft Tittgen war 25 Jahre lang, 1947 bis 1972, für viele Menschen der wichtigste Laden für den täglichen Bedarf in Eppinghofen. Elisabeth Tittgen, 83, freut sich über das Interesse nach so langer Zeit. „Da werden alte Erinnerungen wieder wach”, schreibt sie aus Mechernich.
Und am Telefon erzählt sie mit einem Lächeln in der Stimme von den Anfängen: „Meine Schwiegereltern Hugo und Helene Tittgen hatten um 1919/1920 mit einem Stand auf dem Rathausmarkt angefangen. Die Waren wurden jeden Morgen mit Pferd und Wagen zum Markt gebracht.
„Butter-Eier-Käse Tittgen” – das war in den 1930er Jahren in Stadtmitte ein Begriff.” Das erste richtige Geschäft entstand 1933/34 am Löhberg, gegenüber Lampen Oehler.
Es wurde beim Bombenangriff auf Mülheim 1943 völlig zerstört. „Nicht ein Messer blieb übrig”, erinnert sich Elisabeth Tittgen. Auf einem Ruinengrundstück der Union-Brauerei an der Ecke Eppinghofer/Sandstraße, wo vormals Gastwirtschaft Knappe war, baute sich der Schwiegervater Hugo Tittgen 1947 aus heil gebliebenen Mauersteinen und Brettern eine Theke und fing wieder von vorne an.
Den Schutt fuhr er mit Loren in die Ruhraue. Auch auf der Eppinghofer Straße waren die alten Häuser durch die Bomben fast alle ausgebrannt. Nach dem Krieg entstanden Anfang der 50er Jahre Neubauten. Hugo Tittgen konnte 1956 von seinem Behelfsladen in das Ladenlokal Eppinghofer Str. 124 einziehen. Das junge Ehepaar Arnold und Elisabeth Tittgen half damals schon mit. Nach dem Tod des Seniors übernahmen sie das Geschäft im Jahr 1960.
„Die schönsten Jahre waren die 60er”, sagt Elisabeth Tittgen: „Da hatten wir auch immer genug Lehrlinge, später waren ja keine mehr zu kriegen. Wir nahmen jedes Jahr ein Lehrmädchen, die blieben immer drei Jahre. Zusammen mit den Mädchen, einer Verkäuferin, den Aushilfen, meinem Schwiegervater und uns beiden quetschten wir uns zu Acht hinter die Theke, da wurde es manchmal sehr eng. Vor uns standen die Kunden oft in Dreierreihe, vor allem samstags. Wir hatten fast immer 14 Stunden-Tage, da tun einem abends die Füße weh. Mein Mann war ab 6 Uhr in der Metro oder Ratio und machte den Einkauf der Waren, danach war er unterwegs zu Kunden, die er belieferte, zum Beispiel mit Kartoffeln. Freitags und samstags stand er mit an der Kasse, später hatten wir sogar zwei Kassen. Und abends zu Hause machten wir noch die Buchhaltung. Es war oft schwer, doch es war auch eine schöne Zeit.”
Kinder gehen einkaufen
Und dann erzählt Elisabeth Tittgen vom Alltag im Geschäft. „Ich könnte ein ganzes Buch schreiben!” Von den kleinen Kindern, die von der Mutter zum Einkaufen geschickt wurden, und das Geld in den Zettel eingewickelt bekamen.
Kleine Einkäufe mit Markstücken und Groschen, die die Mutter in den Zettel eingewickelt hatte. „Geh ma eben nach Tittgen und hol 100 Gramm gekochten Schinken, aber mageren, hörsse? Und 3 Dosen Milch zu ner Mark, die aus dem Angebot. Lass dir Rabattmarken geben, nicht vergessen. Hier, ich dreh Dir das Geld in den Zettel ein, kannze anne Theke abgeben. Verlier dat bloß nich, dat is viel Geld!“
„Was musst du denn holen, Frolleinchen?“ fragt Frau Tittgen. Die Sechsjährige ärgert sich. Lieber sollte sie sagen: „Bitte schön, was darf es sein?“ Schließlich war man ja fast erwachsen, ging schon zur Schule.
Die grünen Sparkästen
Elisabeth Tittgen erzählt vom grünen Sparkasten im Geschäft, in den die Leute mindestens ein Mal wöchentlich eine Mark einwerfen mussten und erklärt, wie das funktionierte: „Da musste man mindestens jede Woche eine Mark reinwerfen. Jeden Monat wurde der Kasten geöffnet, zwei Vertrauensleute kamen dann, der eine hat gezählt wie viel da drin war und der andere hat aufgeschrieben. Das konnte man nicht nachkontrollieren, es sei denn man hat es sich zuhause auch notiert. Die Männer brachten das Geld zur Sparkasse und da gab es Zinsen drauf. Der Vorteil war, dass man das zuhause ja nicht machte, also was zur Seite legen. Es gab auch Strafgeld, 50 Pfennig wer vergessen hatte was reinzutun. Jeder hatte seine Nummer. Jedes Jahr vor Weihnachten wurde das Geld ausgezahlt. Man hat das Geld vor dem Kunden gezählt und mit Zinsen abgegeben. Meistens war das heimliches Geld, das die Frauen gespart hatten, die hatten ja kein Konto. Also jede Woche eine Mark, das war dann vor Weihnachten etwas über 50 Mark. Das war viel Geld damals. Auch die Männer hatten ja Lohntüten mit Bargeld, die hatten auch kein Konto. Für uns als Geschäft war der Vorteil, dass die Leute wenigstens einmal die Woche in den Laden kamen und den Kasten fütterten. Und dann haben sie natürlich meistens auch was gekauft.“
Sinter Määtes bei Tittgen
Sie erzählt auch von „Sinter Määtes”, als sie abends immer auf dem Vordach neben dem beleuchteten Tittgen-Schriftzug stand und aus einem großen Korb Bonbons und Nüsse in die singende Kinderschar warf.
Einzeln in den Laden kommen und singen war nicht so gern gesehen. Es wird nachher um 6 Uhr geschmissen, sagen die Verkäuferinnen. Pünktlich stellt sich Frau Tittgen mit einem großen Weidenkorb auf das kleine Vordach neben den beleuchteten Tittgen-Schriftzug und dann macht sie ihren eigenen Chrubbel Chrabbel, das heißt sie wirft mit vollen Händen Bonbons, Nüsse und Süßes von oben auf die krabbelnde Menge Kinder vor ihrem Geschäft. Vorher müssen „die Blagen“ natürlich aus vollem Halse singen. Sssinter Määtes Vögelsche, hätt sonn root kapögelsche….Das Lied kannte damals jedes Kind in Mülheim. Singen, bücken, krabbeln und Frau Tittgens Gaben in den „Büll“ stopfen.
Sie erzählt von der Markise, die sie morgens und abends kurbeln musste und von den Sonderangeboten, die sie mit weißer Farbe in Schmuckbuchstaben auf die Schaufensterscheibe schrieb. „Ich weiß nicht, wo die Jahre geblieben sind. Man war halt jung und aktiv.”
An der Kasse bei Tittgen
Und dann kommt noch ein Bild von ganz weit her: Herr Tittgen mit seinem kurzen, grauen Kittel, mit oder ohne Hut steht er an der Kasse. Es ist demnach Samstag. Er nimmt die Lebensmittel aus dem kleinen drahtigen Einkaufskorb von links nach rechts und bongt die Preise in die altmodische Kasse mit den vielen hoch stehenden Tasten. Dabei sagt er mit lauter Stimme in den Laden hinein: Zweifünfzig, Einsachtundneunzig, und die Butter 65 Pfennig. Dann hätten wir genau Fünfmarkunddreizehnpfennige. Und hier sind noch Ihre Märkchen. - Das Kind steht winzig vor der Theke, schaut andächtig nach oben, wo die Zahlenschilder im Rückfenster der mechanischen Kasse erscheinen und wünscht sich so eine Kasse zu Weihnachten. Aber bitte mit Kurbel, ganz wichtig, zum dran drehen. Frau Tittgen in ihrem langen weißen Kittel lächelt mit Grübchen in der Backe über den Kinderwunsch und rückt zum Trost ein klebriges rosa Himbeerbonbon aus dem großen Glas heraus. Ich hab auch ne Kurbel, willze die mal sehen? Damit fahre ich jetzt die Markise draußen ein, es ist ja gleich ein Uhr, wir machen jetzt Mittagspause. Wieder andächtig nach oben schauen. Frau Tittgen kurbelt. Noch ein Weihnachtswunsch ist geboren. - Komm Kind, wir müssen noch kochen. Gibt Nudeln mit Dörrobst. Hat sie gerade bei Tittgen gekauft.
Anfang der 1970er Jahre gaben Tittgens das Geschäft aus gesundheitlichen Gründen auf. Auch machten die neuen Supermärkte ihnen Konkurrenz. Und so verließen sie Mülheim und ließen sich in der Eifel nieder. Der Nachfolger Dudeck, ein Obst- und Gemüsehändler, hielt sich noch acht Jahre, es folgte ein Laden für Türen und Fensterrahmen, anschließend der heutige Waschsalon.
Arnold Tittgen verstarb einige Monate nach dem Interview Anfang 2008.