Theaterkritiker und Intendanten haben generell ein distanziertes Verhältnis zueinander – im besten Fall. Doch ins Schwärmen geriet der Intendant des Deutschen Theaters Berlin bei seiner Laudatio auf Gerhard Jörder, als der kürzlich den Marie-Zimmermann-Preis für Theaterkritik erhielt: „Er macht sich und sein Urteil nie zum Mittelpunkt. Er wirft vielmehr sein Herz ins Spielfeld, öffnet es der Sache, dem Theater, den Künstler und auch dem Publikum“, sagte Ulrich Khuon. Starke Worte. Und genau so moderiert Jörder auch die Publikumsgespräche bei den „Stücken“. Nach elf Jahren ist dieses Festival seine letzte „Spielzeit“ in Mülheim. Zum Abschluss erhielt er vor dem Beginn der Jurydebatte von Festival-Chef Udo Balzer die Goldene Stücke-Karte und natürlich viel Lob. Jörder, inzwischen 69 Jahre, war überrascht und sichtlich gerührt, versprach als Zuschauer zu kommen und rühmte seinerseits die perfekte Betreuung durch das Stücke-Team. Die Lücke wird schwer zu schließen sein.
Wie fühlt man sich bei solch einer hymnischen Rede auf die eigene Person?
Ich bin jemand, der sehr sachorientiert ist, ich muss nicht gefeiert werden. Khuon war aber unglaublich empathisch. Ich habe dann auch eine Rede gehalten über die Liebe zum Theater auf Distanz. Man liebt das Theater als Kritiker. Ich liebe es auf Distanz und weiß genau, dass es dazu Spielregeln braucht. Bei aller Zuneigung zum Theater sollte man sich immer die Unabhängigkeit bewahren.
In die Publikumsgespräche gehen Sie nie oberlehrerhaft mit einer vorgefertigten Meinung, sondern suchen mit Autoren, Regisseuren, Ensembles und Publikum den offenen Diskurs, hinterfragen Dinge und piksen gern mal nach.
Ja, ich will Gespräche stiften, das war immer schon eine Leidenschaft von mir. Ich will mich nicht selbst auf den roten Teppich stellen und sagen, was ich für eine Meinung habe – obwohl ich durchaus eine habe, sondern ich will, dass man die Autoren, Regisseure und die Ensembles hört. Das ist die große Chance von Mülheim. Das gibt’s bei anderen Festivals nicht, dadurch wird es viel mehr Werkstatt als beispielsweise die Nachgespräche beim Berliner Theatertreffen.
Wie läuft das in Berlin?
Das Berliner Theatertreffen hat, salopp gesagt, Regie-Zampanos, die gehen auf den Laufsteg, wo sie vielleicht kritisiert, aber meistens gelobt werden. Hier ist das ganz anders. In Mülheim kann man, weil es um Stücke geht, immer auch den Haarrissen zwischen dem, was ein Autor in einem Stück sieht, und dem, was ein Regisseur daraus gemacht hat, nachgehen. Das ist am Anfang immer ein bisschen schwierig. Das wollen die ja gar nicht, dass ein Dissens auftritt, aber genau das finde ich am spannendsten. Dadurch entsteht ein Werkstattgespräch, eine gemeinsame Nachdenklichkeit über Stücke, und ich frage: geht es auch anders, was sind die Alternativen?
Stimmt der Eindruck, dass das Berliner Theatertreffen viel mehr mediale Aufmerksamkeit genießt als die Mülheimer Theatertage?
Klar, viel mehr. Das liegt aber wesentlich am Standortvorteil. Ich kenne viele Journalisten, die genau wissen, dass die Mülheimer Stücke-Tage als Uraufführungsfestival nach Berlin absolut das zweitwichtigste Festival in der deutschen Theaterlandschaft sind. Aber beide Festivals sind im Mai.
Aber die Kulturkanäle wie 3sat könnten doch auch mal einen Beitrag über Mülheim bringen.
Das ist natürlich ein Problem. 3sat ist seit vielen Jahren Kooperationspartner des Berliner Theatertreffens. Dass so wenig Journalisten aus der Bundesrepublik zum Uraufführungsfestival hier anreisen, hat mit der absoluten Terminüberschneidung der Festivals zu tun. Und dann stehen die Journalisten vor der Frage: Theatertreffen in Berlin oder Stücke in Mülheim? Kein Journalist kriegt doch für zwei Festivals im Mai zwei Wochen frei geschaufelt. Überhaupt ist der Mai eine Katastrophe geworden: Die Körber-Stiftung macht ihr Festival, der Stückemarkt Heidelberg, Recklinghausen. . .
Was ist Ihr Eindruck von Mülheim?
Auch diesmal gab es wieder viele gute Gespräche, man merkt das am Echo. Trotzdem finde ich: Elf Jahre mit 80 neuen Stücken sind genug! Das Publikum hat ein Recht darauf, nach so vielen Jahren ein neues Gesicht am Podium zu erleben. Und ich möchte gehen, wenn es mir wie allen Beteiligten noch vollen Spaß macht. Das Mülheimer Publikum wird mir sicher fehlen. Ich liebe dieses zurückhaltende, ruhige, nüchterne, aber sachkundige Publikum. Es drängt sich nicht vor und es ist trotzdem da. Dafür bin ich sehr dankbar.