Fragt man Dr. Heinz Martin nach der Bilanz der ersten 90 Jahre seines Lebens, so benutzt er Vokabeln wie „abwechslungsreich“, „extrem“ und „glücklich“. Hört man dem langjährigen Mitarbeiter des Nobelpreisträgers Karl Ziegler dann zu, glaubt man kaum, was alles in ein einziges Leben passt. . .

Begonnen hat dieses Leben am 31. Mai 1923 in Böhmen. Der Vater leitete die Chemischen Fabriken in Aussig – für den kleinen Heinz eine von Anfang an spannende Welt. „Eine sorglose Kindheit“ habe er verbracht, ab 1931 in Oberhausen, wo der Vater Leiter der Ruhrchemie wurde. Immer wieder Chemie: Die Wissenschaft war Lebensinhalt des Vaters – und wurde es auch für den Sohn. „Er hat mir die technische Welt offenbart.“

Das Abitur legte Martin 1941 am Städtischen Gymnasium in Mülheim ab, also just an jener Schule, die Jahre später nach seinem Lehrer, nach Karl Ziegler, benannt werden sollte. Die Martins lebten mittlerweile im Uhlenhorst. Und Heinz tat es nun dem Vater gleich: Er fing bei der Ruhrchemie an – allerdings erst mal nur als Volontär.

Einfach eine Ausbildung machen oder studieren, das ging in den Kriegsjahren leider nicht. Der angehende Wissenschaftler wurde zur Wehrmacht eingezogen, kam aber immerhin – „wegen Beziehungen meines Vaters“ – bei einem Betriebsstoffuntersuchungstrupp auf den Erdölfeldern in Rumänien unter. So konnte er sich mit chemischen Prozessen beschäftigen: Der Trupp hatte die Aufgabe, das in den Raffinerien hergestellte Benzin auf seine Qualität hin zu überprüfen.

Dann kam der 1. August 1943, „der Tag, der für mich die Apokalypse im Krieg bedeutete“, so Martin. 80 US-Liberty Bomber flogen einen Angriff, legten die Anlage in Schutt und Asche. „Die Luft war voll Ruß, die Sonne stand wie der Mond am Himmel. Wir lagen im Maisfeld, hatten die Hosen voll.“

Als der Krieg zu Ende war, konnte Martin das tun, was er längst tun wollte: Chemie studieren! Er schrieb sich ein an der Uni Bonn, und fand 1950 – noch als Student – den Weg zu einer Koryphäe seiner Disziplin: zu Karl Ziegler, dem Leiter des Max-Planck-Instituts (MPI) für Kohlenforschung.

Heinz Martin blieb über 50 Jahre. Und schrieb sich ein in die Geschichtsbücher des Instituts. Der Doktorand beschäftigte sich mit Organo-Aluminium-Verbindungen. Er erlebte Ziegler als „große Persönlichkeit“ und sein Arbeitsgebiet als „faszinierend“.

1953 wurde eine Gruppe von Forschern gebildet, die auf dem Gebiet der Polymerisations-Katalysatoren eine sensationelle Entwicklung einleitete. Eine Erfolgsgeschichte, die 1963 im Nobelpreis für Karl Ziegler gipfelte. Martin entwickelte spezielle Ziegler-Katalysatoren, die Anwendung in der Großtechnik fanden. Und er fand einen Weg, wie sich Ethylen bei Normaldruck polymerisieren lässt – zuvor industriell bei 2000 Atmosphären praktiziert. Bislang waren für den Prozess Stahlgefäße verwendet worden, nun war er im filigranen Glasgefäß möglich. Martin fand eine Methode, das neue Polyethylen formbar zu machen. Ihm gelang zudem die Umwandlung des Gases Propylen in den Kunststoff Polypropylen. Dieser Stoff erwies sich – über Lizenzeinnahmen – als umsatzstärkstes Produkt der Max-Planck-Gesellschaft.

Apropos Lizenzeinnahmen: Die beste Erfindung nützt wenig, wenn sie ungeschützt bleibt. Später befasste sich Martin, auch Geschäftsführer der Studiengesellschaft Kohle, mit Patentrechten. In zähen Kämpfen – und Kreuzverhören durch US-Anwälte – sicherte der dreifache Vater weltweit Schutzrechte. Und verschaffte so auch wissenschaftlichem Nachwuchs eine Zukunft. 1989 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.