Der Obst- und Gemüseladen Latte war ohne Irene Latte nicht denkbar. Die 85-Jährige kramt in ihren Erinnerungen: Da zappeln Fische auf der Straße, klemmt der Bleistift hinter'm Ohr, können die Verkäuferinnen perfekt Kopfrechnen.
Auch heute noch steht groß „Latte“ über der Tür an der Eppinghofer Straße 108. „Das kriegen wir nicht so ohne weiteres ab“, lacht Irene Latte. Macht doch nichts, das erinnert die alteingesessenen Eppinghofener daran, wie es hier früher einmal aussah, als der Telefonladen noch das Feinkostgeschäft war und nebenan, wo jetzt das Spielcasino seinen Sitz hat, das bekannteste Obst- und Gemüsegeschäft der Eppinghofer Straße: Latte.
1948 fing alles an, 1986 war Schluss. 38 Jahre lang ein Leben für den Laden, für die Kundschaft von Eppinghofen. Irene Latte, Jahrgang 1923, erinnert sich vor einem Stapel alter Fotos an vergangene Zeiten auf der Eppinghofer Straße, damals eine repräsentative Einfallstraße zur Stadtmitte.
„Früher sagten wir: Unseren Laden finden Sie gleich an der Ampel zur Heißener Straße/Sandstraße. Heute ist dort ein großer Kreisverkehr.“ Frau Latte lässt die Anfangsjahre Revue passieren, berichtet von lebenden Fischen, 60 Puten, Gänsen und Hühnern, die Bubi Latte an Heiligabend morgens stundenlang ausnehmen musste. („Er wollte ja eigentlich Arzt werden, na das war ja so was ähnliches“), vom Einkauf des Gemüses auf dem Großmarkt morgens um 3 Uhr, von der Zeit des Aufbaus nach dem Krieg, von der ersten (und letzten) selbstgebauten Kasse, einer Schublade aus Holz, die sie und ihr Mann hatten anfertigen lassen. Sieht vor ihrem geistigen Auge noch ihre Mutter davor sitzen, als Kassiererin. Und sagt: „Damals gab es noch keine Registrierkassen. Da haben wir abends zu Hause Kasse gemacht.“
Irene Latte, geborene Völker, kannte sich gut aus im Einzelhandel. Schon seit 1932 besaßen ihre Eltern ein Obst- und Gemüsegeschäft an derselben Stelle. Als Kind hatte sie – widerstrebend, wie sie sagt – im Laden helfen müssen.
Im Krieg 1941 wurde das Geschäft ihrer Eltern geschlossen: Der Vater wurde Soldat, und allein mit der Mutter wollte und konnte die junge Irene Völker den Laden nicht weiterführen, kam bald „weg zum Arbeitsdienst nach Mecklenburg“. 1943, beim großen Luftangriff auf Mülheim, zerstörte eine Bombe das Elternhaus mitsamt dem Laden. Nach Kriegsende 1945, als der Vater glücklich zurückkehrte, sollte es weitergehen, allerdings unter großen Schwierigkeiten.
Für 500 DM kaufte der Vater von der Polizei einen alten Gerätewagen…“…so ein Kastenwagen, Tempo-Vierrad hieß der. Die Kupplung war kaputt, da haben wir die Kupplungsscheiben mit Korken belegt“, erinnert sich Irene Latte. Damit waren sie wieder motorisiert, die Grundlage, um Waren bei Bauern abzuholen. „Zuerst, 1946, gab es nur Suppengrün und Rhabarber. Unser Haus war ja noch kaputt, da hat mein Vater links nebenan, wo später die Bäckerei Heimbach war, ein paar Kisten aufeinander gestellt und dort wurde das Bisschen verkauft, was wir kriegen konnten. Auch für die paar Sachen haben die Leute Schlange gestanden. Das war der Anfang vom Gemüsegeschäft Völker, aus dem später Latte werden sollte. 1948 einen Laden zu eröffnen war ein Wagnis. Das war eine schlimme Zeit, die Nachkriegszeit, von der so oft gesagt wird: Es gab ja nix. Und so war es wirklich.“
Wann kam denn nur der Name Latte ins Spiel? „Meinen späteren Mann Robert, genannt Bubi kannte ich schon als Kind. Beim Sport sind wir ca. 1946 zusammengekommen, ich spielte Tennis, mein späterer Mann war beim Hockeyverein Uhlenhorst aktiv. Die sind später sogar mit ihm Deutscher Hockeymeister geworden, das war 1954."
"Bubi" Latte kam aus einer Musikerfamilie und wollte eigentlich nach dem Abitur Medizin studieren. Aber in diesen Zeiten konnte man nicht immer alles verwirklichen, was man gerne wollte. Irene Latte erzählt, dass ihre Mutter schon 1948 sagte: „Tut Euch doch zusammen und macht den Laden weiter. Essen müssense immer“. Eigentlich wollte Irene Latte nie mehr ein Geschäft haben, wusste sie doch, wie viele Arbeitsstunden täglich auf sie zukommen würden.
„1950 haben wir geheiratet. Und von da an ging es rund. Wir haben jahrelang keinen Urlaub gehabt und immer nur geschuftet. Ich war mehr links im Feinkostladen, habe auch die Buchführung gemacht, mich um die vielen Angestellten gekümmert, das Haus, die Mieter…wir hatten nie Zeit für uns und unsere Tochter. Ohne Haushaltshilfe ging gar nichts.“
1955 wurde das marode, kriegsbeschädigte Haus abgerissen und es ging los mit dem Neubau. Während des Neubaus durften sie, nach einer Sondergenehmigung des Oberbürgermeisters Thöne, in einem leicht überdachten Notbehelf weiter verkaufen. Die Neueröffnung dann im Dezember 1956. Zwei Geschäfte:
Links Feinkost Latte, rechts Obst- und Gemüse Latte. Und so blieb es 38 Jahre lang.
Das Geschäft ging gut, jedenfalls der Gemüseladen, damit verdienten sie das Geld. Der Lebensmittelladen trug sich soeben. Jeden Morgen um 3 Uhr fuhr Bubi Latte mit dem 2-Tonner LKW zum Großmarkt. Um diese frühe Uhrzeit konnte er dort direkt bei den Bauern kaufen. „Um 4 Uhr fuhren die weg, der Rest ging an die Grossisten. So hatten wir eine Verdienstspanne gespart.“ Obst und Gemüse kam direkt von der Waagschale in die Tasche der Hausfrauen oder wurde in Zeitungspapier eingewickelt.
„Abfallobst hatten wir in einer extra Kiste. Die Leute, die wenig Geld hatten, kriegten das umsonst. Da wurde nicht viel Tamtam drum gemacht.“, so Irene Latte.
Dönekes? Natürlich! „Wir hatten im Feinkostladen dieses riesige Aquarium mit Lebendfischen, vor allem vor Weihnachten waren es ganz viele. Einmal, ich war gerade auf der Eppinghofer Straße unterwegs, traute ich meinen Augen nicht, als ich es von weitem auf dem Bürgersteig zappeln sah und meinen Mann in der Gosse fischen. Ein schwerer LKW war dicht am Laden vorbei gefahren. Durch die Vibration platzte das Aquarium, tausend Scherben im Laden, Wasser und Fische überall, durch die offene Ladentür raus auf die Straße. Die haben wir dann alle schlachten müssen. Heiligabend und Silvester gab es jedes Jahr Karpfen, die schwammen in unserem gemauerten Becken herum. Den ganzen Vormittag des Heiligabends wurde geschlachtet. Wir hatten ja bis abends um 7 Uhr geöffnet. Unterm Tannenbaum waren wir immer völlig schachmatt.“
Irgendwann vor etwa 20 Jahren haben Bubi und Irene Latte das Geschäft aufgegeben. Warum? „Es blieb nichts mehr hängen, die Personalkosten waren zu hoch, die Steuern, die Auflagen von Amts wegen, wir hätten zwei Toiletten und einen Aufenthaltsraum anbauen müssen, weil wir immer Lehrlinge hatten. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde es auch immer schlechter mit dem Verdienst. Die Konkurrenz der neuen Supermärkte wurde drückend. Im Gemüseladen hatten wir erst gar nichts gemerkt. Aber 1986 haben wir dann einen Schnitt gemacht.“ Und danach? „Einige Jahre haben wir noch gemeinsam den Ruhestand genossen, bis mein Mann krank wurde und 2003 starb. Und ich wohne immer noch hier und blicke auf die Eppinghofer Straße hinunter, mit ihren vielen Autos und Menschen. Eine lebendige Straße ist es geblieben, und ich bin umgeben von netten Menschen. Auch wenn es früher einmal anders war, so bleibt dieses Stadtviertel mein Zuhause.“
Und die selbstgebaute Schubladen-Kasse? „Die haben wir bis zuletzt benutzt, wir hatten nie eine Registrierkasse. Und Sie werden lachen: Die Schublade habe ich heute noch! Darin bewahre ich Erinnerungsstücke von früher auf.“