Mülheim-Broich/Raadt. .

„Du weißt, du bist ein Mülheimer, wenn. . . Du im Schloß Broich geboren bist, so wie ich im Jahr 1930.“ Dieser Halbsatz leitete vor einigen Wochen eine spannende Konversation via E-Mail und Skype ein: Werner Hildesheim war beim Surfen im Internet auf die Rubrik der Mülheimer WAZ gestoßen, die Leute erzählen ließ, was sie zum waschechten Mülheimer macht. Und ein Mensch, der im Schloß zur Welt gekommen ist, hat nun wahrlich alles Recht dies zu behaupten.

Dabei: Werner Hildesheim ist seit vielen, vielen Jahren Kanadier. 1956 hat er seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt, sind seine Frau Tina und er von Bremerhaven aus ins große Auswanderabenteuer gestartet. Per Dampfer „Arosa Star“ ging es Richtung Montreal. Denn es war nicht einfach gewesen in Mülheim; Tinas Eltern waren von Anfang an gegen die Beziehung der beiden. Werner war evangelisch und Tinas Familie katholisch – ein Unding für die Schwiegereltern. Und auch für einen Kirchenvertreter, der Tina gegenüber behauptet hatte, „wenn du den heiratest, ist das wie Perlen vor die Säue“. Sie taten es trotzdem – und wurden froh damit.

Mit der Ausreise umging Hildesheim noch ein Problem: Ab Mitte der 50-er Jahre konnten junge deutsche Männer wieder zum Militär einberufen werden – „und das war gar nicht gut“, so Hildesheim. „Ich hatte so viel Schlimmes erlebt.“

Grausame Erinnerungen an den Krieg

Familie Hildesheim lebte zu Kriegszeiten nicht mehr im Schloß, „das hatte die Stadt 1938 übernommen“, sondern an der Buggenbeck. Wenn die Sirenen heulten und vor einem Angriff warnten, rannten die Hildesheims in den Luftschutzkeller. An die Bomben denkt der 82-Jährige mit großem Grausen. „Wir hatten selbst mal eine Brandbombe in der Wohnung; die konnte mein Vater aber noch rechtzeitig rausbefördern und löschen.“ Andere hatten weniger Glück, weiß er: zum Beispiel eine Freundin, die auf dem Weg zum Kino schwer verletzt wurde, außerdem Hunderte Menschen, die an Heiligabend 1944 Schutz suchten im Bunker am Flughafen und jämmerlich ums Leben kamen. „Bilder, die ich nicht vergessen kann“, so Hildesheim.

Gegen Ende des Krieges sollte der 14-Jährige selbst ins furchtbare Geschehen eingreifen; er musste sich in einer Schule in Heißen melden. „Aber ich habe es nur fünf Stunden ausgehalten.“ Dann ging er stiften.

Neben diesen belastenden Erinnerungen hat der 82-Jährige vor allem viele schöne – ganz besonders an das Schloß, das einst sein Zuhause war und in dem sie mit insgesamt fünf Familien lebten. „Weiß der Deubel, wie mein Vater es geschafft hat, dass wir dort wohnen konnten – er hatte wohl gute Verbindungen“, glaubt Hildesheim. Und der Vater, ein Straßenbahnschaffner, brachte sich auch ein für das hochherrschaftliche Heim: „Er hat sich um den Schloßgarten gekümmert, das war seine große Leidenschaft.“

Immer wieder, wenn Hildesheim nach Mülheim kam, hat er das alte Gemäuer besucht. Und dabei manches gefunden, was an früher erinnerte: Zum Beispiel die Tür, hinter der sich einst die Kohlen- und Vorratskammer der Familie verbarg. Einen Turm aber, den er als Kind so gerne hochgeklettert war, suchte der Weitgereiste vergeblich.

„Ich bin Kanadier mit deutschen Wurzeln“

Als „Kanadier mit deutschen Wurzeln“ bezeichnet er sich mittlerweile und hält im Sport längst zum Team der neuen Heimat. Doch die Orte von einst lassen ihn nicht los, zeigen die E-Mails: Er sammelt die Mülheimer Jahrbücher, schwärmt vom Pilze suchen im Uhlenhorst, vom Tiergarten Duisburg, von Wanderungen quer durch den Wald an der Schinder­hanneshöhle vorbei. „Andere Ausflugsziele mit meinen Eltern waren Dicken am Damm, Müller-Menden, die Gruga, der Baldeneysee. Kettwig war auch nur einen Klacks entfernt, da der Triebwagen von Stryrum in Broich hielt.“

Nach der Schule fand Hildesheim eine Anstellung bei AEG an der Aktienstraße und arbeitete sich zum Turbogenerator-Monteur hoch. Der Arbeitgeber wollte ihn nicht ziehen lassen. „Noch in Bremerhaven haben sie versucht, mich zu halten, sind persönlich angereist.“ Doch die Sache war klar: Es ging gen Westen. „Und das haben wir nie bereut.“

Abzuheben war das höchste der Gefühle für den jungen Tüftler

Acht Tageszeitungen aus aller Welt überfliegt Werner Hildesheim am Schreibtisch im kanadischen Cambridge täglich, darunter die Onlineseite der WAZ. „So habe ich einen halbwegs objektiven Überblick, was passiert.“ Die Neugier auf die Welt hat ihn nicht nur über den Atlantik geführt – der 82-Jährige interessiert sich auch heute noch für alles Mögliche. Und als Ingenieur, zu dem er sich in Kanada ausbilden ließ, ist er auch neuer Technik gegenüber aufgeschlossen. Telefonieren, schreibt er in einer Mail, das sei ja wohl antik. Er bevorzuge den Chat per Skype.

Bei seinen täglichen Recherchen im Netz hat Hildesheim auch „die schlimme Nachricht über den Tod von Theo Wüllenkemper“ gelesen. „Er war einer unserer Besten“, schreibt Hildesheim und berichtet leidenschaftlich von seiner Zeit als Tüftler am Mülheimer Flughafen. „Als Mitglied des Aeroclubs Mülheim habe ich mit meinen Freunden viel Zeit in der Werkstatt verbracht.“ Es ging ihnen ums Segelfliegen, immer nur ums Segelfliegen. „Wir haben die Dinger gebaut und sind sie selbst geflogen.“ Abzuheben war einfach das höchste der Gefühle für Hildesheim.

Ihren Ursprung hatte die Leidenschaft in sommerlichen Ausflüge, die den kleinen Werner mit den Eltern vom Uhlenhorst zum Entenfang führten – „vorbei am Segelflughang, um mal einen SG38 anfassen zu dürfen“. Zum Glück mischte auch Ehefrau Tina später gerne am Flughafen mit; sie war die Schriftführerin des Mülheimer Clubs.

„Dat“ und „Wat“ entlarven ihn noch heute rasch

Spricht man mit Hildesheim, fällt auf, dass er noch heute „Wat“ und „Dat“ sagt, dass die Sprache ihn auch jetzt noch schnell als Kind des Ruhrgebiets entlarvt. „Dabei haben wir mit unseren Söhnen nie Deutsch gesprochen“, erzählt der zweifache Vater. Im Alltag eines neuen Landes sei es einfach schwierig, die alte Sprache zu pflegen.

Denkt er an Deutschland, muss Hildesheim auch mal schmunzeln: „Zum Beispiel über den Standesdünkel – so was gibt es hier nicht.“ Kleider machen Leute, heiße es in Deutschland. „Hier dagegen kann selbst jemand in zerrissener Jeans eine Menge Geld haben.“ Die Bodenständigkeit der Kanadier, so Hildesheim, die gefalle ihm sehr.