Sitzenbleiben war einmal, zumindest in Niedersachsen. Dort nämlich plant die Landesregierung, die unbeliebte Ehrenrunde abzuschaffen. Auch in NRW herrscht beim Thema Sitzenbleiben wieder Gesprächsbedarf: So bezeichnete Schulministerin Sylvia Löhrmann das Wiederholen gar als „Lebenszeitverschwendung“. Und auch die Mülheimer Schulen haben erkannt, dass Sitzenbleiben nicht nur teuer (siehe Kasten), sondern auch verhinderbar ist: Durch frühes Erkennen von Leistungsschwächen und eine gezielte Förderung soll die Nichtversetzung ihrer Schüler verhindern werden.
Nur 15 Schüler in der Ehrenrunde
„Ich denke, ich spreche für alle Mülheimer Schulen, wenn ich sage, dass es überall entsprechende Fördermaßnahmen gibt.“, sagt Judith Koch, Schulleiterin der Realschule Mellinghofer Straße. An der städtischen Schule gibt es 14-tägige „Lernbüros“, in denen Schüler in kleinen Gruppen von entsprechenden Fachlehrern Hilfestellungen bekommen. Mit jeder Klassenarbeit bekommen die Schüler Diagnosebögen mit Hinweisen zu den Lernbüros, wo sie dann gezielt ihre Wissenslücken auffüllen können. Der Anteil der Sitzenbleiber ist dadurch deutlich zurückgegangen. Vergangenen Sommer waren es beispielsweise nur 15 von 600 Schülern, die durch Nachprüfungen aber noch die Chance gegeben wurde, nachzurücken. Doch ganz ohne Ehrenrunde geht es nicht. Koch: „Manche Schüler blühen auf, weil sie beim Wiederholen den Anforderungen gerecht werden können.“
Auch die Karl-Ziegler-Schule hat ihr Unterrichtsprogramm darauf ausgerichtet, alle Schüler aufzufangen. Durch die Ganztagsregelung, in der sich inzwischen die fünfte bis achte Jahrgangsstufe befinden, sind im Stundenplan feste Blöcke eingebaut, in denen Schüler ihre Vertiefungsarbeiten erledigen können. Diese sollen die Hausaufgaben ersetzen und finden unter fachlicher Betreuung und in Zusammenarbeit mit der Caritas Mülheim statt. Magnus Tewes, Schulleiter des Gymnasiums: „Dadurch haben wir unsere Schüler ständig im Blick.“ Bei den vierteljährlichen Konferenzen werde über die Entwicklung der einzelnen Schüler gesprochen. In Problemfällen würde eine rechtzeitige Beratung mit dem Schüler und den Eltern stattfinden und Förderempfehlungen besprochen werden.
An Gesamtschulen stellt sich die Frage der Versetzung nicht, da es bis zur neunten Klasse kein Sitzenbleiben gibt. Mathias Kocks, stellvertretender Schulleiter der Willy-Brandt-Schule, nennt es „eine Verschwendung von Ressourcen“, wenn Millionen dafür ausgegeben werden, Schüler länger im System zu behalten. Stattdessen sollte man das Geld in die Förderung der Lehrer investieren. Auch die Gesamtschule bietet spezifische Lernbetreuung und Vorbereitungskurse auf Abschlussprüfungen an. Kocks glaubt, dass es für viele Schüler ein Frust wäre, aus einer Klassengemeinschaft herausgerissen zu werden, in Einzelfällen aber vielleicht Sinn mache. In Ausnahmefällen ist es auch auf Wunsch des Schülers und der Eltern möglich, eine Klasse zu wiederholen.
Sitzenbleiben kein Allheilmittel
Grundsätzlich ist auch Günter Waberg von der Regionalen Schulberatungsstelle nicht für das Sitzenbleiben, sieht es aber in individuelle Situationen wie die Schulleiter: „Wenn jemand nur Misserfolgserlebnisse hat, macht es in einzelnen Fällen Sinn zu Wiederholen, bevor ein Schüler lediglich mitgeschleppt wird.“ Das Sitzenbleiben sei allerdings kein „Allheilmittel, sondern eine grobe Maßnahme“. Er betont dabei die psychologischen Konsequenzen, die eine Nichtversetzung mit sich bringen kann: Beschämung, Minderung des Selbstwertgefühls, Schwierigkeiten beim Einfinden in eine neue Lerngruppe. Die negativen würden die positiven Folgen nicht unbedingt aufwiegen können. Damit es nicht so weit kommt, unterstützt die Schulberatung den Dialog zwischen Schülern, Eltern und Lehrern durch Zusammenarbeit mit den Schulen. Meist lassen sich bereits mit dem Zwischenzeugnis zum Halbjahresende Gefährdungen für die im Sommer anstehende Versetzung feststellen. Wenn man sich frühzeitig mit den Gründen für die Schwierigkeiten auseinandersetzt und daran arbeitet, bliebe noch genug Zeit, um am Ende des Schuljahres zu bestehen.